Der Ethnizismus im multikulturellen Gewand

Die Debatte um die doppelte Staatsbürgerschaft zeigt die Identitätsprobleme von Weltanschauungslinken auf / Im heutigen deutschen Kontext wäre dieses Bürgerrecht nichts anderes als eine Konzession an den türkischen Staat  ■ Von Sonja Margolina

Die doppelte Staatsbürgerschaft ist zu einer idee fix geworden. Ich halte die Debatte daher für eine Scheindebatte und glaube, daß ihre Heftigkeit und Realitätsblindheit viel mehr mit den Identitätsproblemen von „Weltanschauungslinken“ zu tun hat als mit der Diskriminierung von Ausländern. Darüber hinaus werden in dieser Debatte Unsicherheiten und Ängste vor der Einwanderung, die nicht nur die Rechten empfinden, politisch korrekt überkodiert.

In Deutschland leben derzeit 6,5 Millionen Ausländer, nur zwei Millionen von ihnen sind Türken. Einige glauben, daß die Verachtung gegen „die Deutschen“, rückständige Frauenpolitik sowie Unterstützung der türkischen Politik durch die in Deutschland lebenden Türken sie zu den „Fremden“ macht, die nicht dazugehören wollen und im Falle einer doppelten Staatsangehörigkeit konservativ wählen würden. Ein derartiges „linkes“ Argument gegen zwei Pässe ist nicht plausibel: Man darf Menschen die politischen Rechte nicht aufgrund ihres Konservatismus oder meinetwegen ihrer Rückständigkeit verweigern. Das ist nicht nur undemokratisch, sondern weist auf die Tendenz hin, Ausländer für parteipolitische Zwecke zu instrumentalisieren.

Es ist zudem falsch, ausgerechnet die Türken aufgrund ihres Konservatismus als besonders fremdes Element zu stigmatisieren. Nicht nur Türken, die meisten Einwanderer und Emigranten aus autoritären Ländern sind konservativ und verachten die modernen deutschen Sitten. So unterscheiden sich Rußlanddeutsche in vieler Hinsicht kaum von anatolischen Bauern: Sie leiden an „Individualismus“ und „Kälte“, vermissen Gemeinschaftssinn und Großfamilie, verbieten mitunter zum Beispiel ihren Kindern, am Unterricht für Sexualkunde teilzunehmen. Die Rußlanddeutschen wählen wahrscheinlich auch konservativ. Man verdächtigt die CDU nicht ohne Grund, daß sie sich potentielle Wähler ins Land holen will. Damit ist das historische Problem der „Volksdeutschen“ jedoch nicht gelöst. Die Ressentiments gegen den individualistischen Westen sind vorindustrieller Herkunft und haben keine Nationalität, genauer gesagt, ihre „nationale Zugehörigkeit“ ändert sich mit der Zeit. Vor dem Zweiten Weltkrieg pflegten die Deutschen und ihre östlichen Nachbarn diese Ressentiments, heute pflegen sie in Deutschland nur Rechtskonservative, während sie in anderen Ländern immer noch allgemein verbreitet sind, in moslemischen Staaten allemal. Wie oft habe ich Kroaten, Polen, Russen über „die Deutschen“ schimpfen hören, natürlich nur, wenn sie unter sich waren. Die schizophrenen Beziehungen von Emigranten und Gastarbeitern zu ihrer „zweiten Heimat“ sind Folge von Kulturschock und ungenügender Integration.

Auffallend ist nämlich, daß die deutschen Sitten (wie die amerikanischen in den USA) immer von denjenigen besonders mißbilligt werden, die wenig deutsche Freunde haben und mit ihrer Arbeit unzufrieden sind. Am meisten schimpfen aber Sozialhilfeempfänger, die auf diese Weise ihr schlechtes Gewissen und ihre durch Almosen erzeugte Erniedrigung zu kompensieren suchen. Ich habe zwar keine Statistik geführt und kann Rassismusquoten nicht „wissenschaftlich“ belegern, aber Osteuropäer sind nicht weniger rassistisch als Deutsche. Worin besteht dann der Unterschied zwischen der kulturellen Abwehrreaktion von Türken und anderen Ausländern gegen „das Deutsche“, genauer gesagt, gegen die postindustrielle Gesellschaft, die Deutschland für sie verkörpert? Er besteht nur in einem: Hinter den Türken, ob sie das wollen oder nicht, steht der türkische Obrigkeitsstaat, während die anderen Ausländer, mögen sie sich noch so unfair und „undankbar“ aufführen, keine Instanz haben, die durch sie ihre eigenen Interessen durchsetzen, sie beeinflussen und manipulieren könnte. Zu welchen Religionen und Kulturkreisen sie auch gehören und welche politische Ansichten sie haben mögen, sie würden von ihrem Wahlrecht wahrscheinlich eher individuell Gebrauch machen. Irina Wießner vermutet mit Recht, daß die Debatten um die doppelte Staatsbürgerschaft nie so heftig geführt würden, wenn sie nichts mit Interessen der Türkei zu tun hätten. Und unsere Multikulturalisten beeilen sich, ihre machtpolitischen Interessen gegen die eigene Gesellschaft auszuspielen. Nicht Waffenlieferungen an die Türkei, nicht brennende kurdische Dörfer, Zensur und Folter, das Leugnen des Holocaust an den Armeniern, sondern die Befriedigung politischer Ansprüche der von der Türkei manipulierten „deutschen Türken“ – so Irina Wießner – wird zum Kriterium einer wahren demokratischen Politik. Als sich herausstellte, daß die Türken von der jetzt vorhandenen Möglichkeit, deutsche Staatsbürger zu werden, kaum Gebrauch machten, begann man an den vermeintlichen Gründen einer derartigen Unwilligkeit herumzurätseln. Man argumentierte sogar damit, daß die Türken bei dem Austritt aus der türkischen Staatsangehörigkeit ihr Eigentumsrecht in der Türkei verlieren. Gut möglich. Das türkische Eigentumsrecht kann aber doch nicht ein Grund sein, die deutsche Verfassung zu ändern! Eine doppelte Staatsbürgerschaft im heutigen deutschen Kontext wäre dann nichts anderes als eine Konzession an den türkischen Staat. In Wirklichkeit haben viele Ausländer eine doppelte Staatsbürgerschaft, und es fehlt nicht an Ausnahmen, auch unter Türken. Die Vermutung liegt nahe, daß es am Bedürfnis nach Einbürgerung mangelt, welche Gründe dafür der „statistische Türke“ auch haben mag. Vielleicht geht es ihm ohne den deutschen Paß nicht so übel? Die Sorgen um die verlangsamte Integration sind dann vorrangig deutsche Sorgen.

Die Multikulturalismus-Ideologie versteht die Bewahrung der ethnischen Identität als Menschenrecht. Es bleibt aber kaum nachvollziehbar, in welchem Zusammenhang die Staatsangehörigkeit zu dieser Identität steht. Die politischen Schritte zur Abschaffung des ethnisch definierten Begriffs von Staatsangehörigkeit hätten eine wichtige Wende bezeichnen können: die Abkehr vom traditionellen deutschen Verständnis der Nation als „Blutgemeinschaft“. Die doppelte Staatsangehörigkeit indes wäre bei gleichzeitiger Ausbewahrung des Jus sanguinis dessen Legitimierung. Sie fördert Loyalität zum Herkunftsland und setzt die kulturelle Identität mit der nationalen gleich: Die Übernahme der deutschen Staatsangehörigkeit gilt als Verrat der kulturellen Wurzeln. Letzteres wurde von Türken vielmals als Begründung der Weigerung, die deutsche Staatsbürgerschaft anzunehmen, angeführt. Das Verständnis dafür, daß die Staatsangehörigkeit ein politischer Vertrag ist und eigentlich in keinem „genetischen“ Zusammenhang mit kulturellen Wurzeln stehen muß, fehlt allzu oft auf der Seite der Minoritäten. Die Konzession an das Ethnische auf Kosten des Politischen seitens der Ausländer läßt eine Einstellung zu ihnen als Fremden, die sich mit der deutschen Kultur nicht „innerlich“ identifizieren wollen, weil sie schon einer anderen Identität verpflichtet sind, als berechtigt erscheinen. Daß man der Nation und trotzdem dem anderen Kulturkreis angehören kann, wird auch weiterhin nicht diskutabel werden, solange es von den neu entstandenen Minoritäten selbst abgelehnt wird. Die Bemühungen der liberalen Eliten, dem jus soli näher zu kommen, werden dadurch überflüssig gemacht.

Es wird in letzter Zeit gerne über das „Recht“ auf kollektive Identität, über den Wert der Differenz geredet. Hier ordnet man dann im multikulturellen Eifer auch ethnische Identitäten ein, ohne zu merken, welch ein Abgrund die sogenannte postmoderne Identität von der ethnischen trennt. Bei letzterer geht es nicht um eine Selbstzuordnung zu einem kulturellen Milieu, um eine Beziehungswahl (Gerhard Schulze), sondern um die Auflösung des Individuums in einem kollektiven Ganzen, das sich gegen andere abgrenzt, nicht neben sie stellt. Der Ethnizismus im multikulturellen Gewand ist ein bedeutender Schritt zurück auf dem Weg zu archaischen Stammesverbänden und „molekularen Bürgerkriegen“ (Hans Magnus Enzensberger). Gerade nach 1989, als die unterdrückten Völker ihre Staatlichkeit erlangten, ist manche Illusion hinsichtlich der „Urunschuld“ der kleinen Ethnien zerstört worden: Aus Unterdrückten sind Unterdrücker geworden, und zwar ohne Ausnahme: Lenin, ein großer Meister der Verführung unterdrückter Minderheiten, glaubte, der Nationalismus kleiner Völker sei gerechtfertigt, während der Chauvinismus einer großen Nation unverzeihlich sei. Nach einer langen Periode der Staatsbildung und militärischer Katastrophen sind die großen europäischen Nationen viel weniger „nationalistisch“ geworden. Der nationale Wahn von Minoritäten scheint indes in umgekehrtem Verhältnis zu ihrer Zahl zu stehen. Erlangten sie ihre eigene Staatlichkeit, fürchten sie ihre Machtstellung an die dadurch zur Minderheit gemachten Bevölkerungsgruppen zu verlieren. Bleiben sie als wachsende Minderheit ohne eigenes Territorium, streben sie nach Staatlichkeit, um den anderen Minderheiten die Macht zu entreißen. An ihrer Spitze stehen Eliten, die die Minorität politisch vertreten und das kollektive Bewußtsein der Massen herstellen: Das ethnische Bewußtsein entsteht im Diskurs, nicht aus dem Geist der Musik. Migranten, die dabei sind, ihre ethnischen Bindungen zugunsten gesellschaftlicher aufzugeben, können dadurch von einer Integration abgehalten werden: Sie werden mit Argumenten, Losungen, mit der Semantik einer vermeintlichen „Identätit des Herkunftslandes“ ausreichend versorgt. Der Diskurs „kollektiver Identität“ legitimiert eine Selbstghettoisierung von Ausländern, ihren Rückzug in die „Großfamilie“ der Gemeinschaft, die „der Volksgruppe Schutz und Rückhalt bietet, aber auch die Entscheidungsfreiheit und den Aufstieg des einzelnen einschränkt“ (Thankmar von Münchhausen). Da die europäischen Gesellschaften mit dem immer weiter wachsenden Strom von Menschen aus verschiedenen Kulturen konfrontiert werden, stellt sich die Frage, ob die ohnehin entstehenden ethnischen Gruppen als Minderheiten institutionalisiert und dadurch zusätzlich von der Integration abgehalten werden sollen. Sie darf gestellt werden, auch wenn das Problem der Staatsangehörigkeit und der politischen Rechte zumindest in Deutschland alles andere als gelöst ist.

Das jus soli ist eine Frage der nächsten Zeit: Keine Vorurteile und Ängste werden das verhindern können. Die gutgemeinte politische Anerkennung der Minderheiten ist dagegen eine Frage des Überlebens Europas. Welche Tendenz wird dominieren: Melting pot oder Ballungsgebiet, Integration oder Stammeskriege, Transformation oder Fragmentierung der Gesellschaft in verschiedene Minoritäten? Vieles hängt davon ab, ob sich die demokratische Gesellschaft zwischen der Szylla der politischen Gleichstellung der Einwanderer und der Charybdis einer positiven Diskriminierung von Minoritäten – und damit künstlichen Aufrechterhaltung ihrer kollektiven Identität – verliert und in die Defensive gerät oder einen Wandel mit Blick auf die eigene „europäische“ Identität einleitet.

Der deutsche Diskurs über die doppelte Staatsangehörigkeit erscheint mir verlogen und ideologisiert. Sowohl die deutsche als auch die türkische Seite argumentieren mit Fetischbegriffen wie „Herkunftsidentität“ und „kulturelle Wurzeln“, wobei oft schamhaft das Adjektiv „kollektiv“ unterschlagen wird. Denn „kollektive Identitäten“ haben überall zerstörerische Konsequenzen. Ich bin gegen die doppelte Staatsangehörigkeit nicht wegen einer vermeintlichen politischen Bevorzugung der in Deutschland lebenden Türken und auch nicht wegen deren Manipulierung durch den türkischen Staat. Ich bin gegen die Gleichsetzung von Kulturellem und Nationalem, von Kulturellem und Politischem, gegen jede Konzession der Politik an Ethnizität.

Zugleich habe ich wenig Illusionen hinsichtlich der heilenden Wirkung nur einer Staatsangehörigkeit. Naiv wäre es auch zu hoffen, daß sie die Beziehung von deutschen Türken zur Türkei grundsätzlich ändern würde. Bekanntlich hindert das jus soli die Islamisten in Frankreich nicht, ihren Einfluß unter den Algeriern mit französischer Staatsbürgerschaft zu vergrößern. In den islamischen Gemeinden im Ausland entsteht eine eigene Dynamik, die kaum von der Gastgesellschaft zu steuern ist. Es stimmt zwar, daß Rassismus und Armut den ins Abseits gedrängten Einwanderern für den Fundamentalismus besonders empfänglich machen, aber es wäre kurzsichtig, diese grenzenübergreifende Bewegung auf den Rassismus im Gastland zu reduzieren. Mit einer solchen Argumentation sind Ausländer immer nur Opfer des erbarmungslosen westlichen Kapitalismus. Manchmal ist die Opferrolle jedoch gerade für die Durchsetzung von Sonderinteressen und den Machtkampf sehr gut geeignet. Die politische Korrektheit eines sich selbst in die Enge treibenden Täters kann doch nicht eine ernsthafte Antwort auf die Herausforderung der Einwanderung und die Schwierigkeiten der Integration sein.