■ Dresden, Februar 1945 – Ein Brief an Roman Herzog
: Auf ein Wort, Herr Bundespräsident,

1995 wird, schon jetzt abzusehen, Anlaß bieten zu vielfachen Rückbesinnungen an Ereignisse, die vor einem halben Jahrhundert die Welt erschütterten und beglückten – allen voran der 27. Januar und der 8. Mai 1945, also das Ende von Auschwitz und der Untergang des Dritten Reiches. Und so wird es denn eine wahre Flut von öffentlichen Gedenkveranstaltungen geben, aber auch ganz persönliche Erinnerungen, darunter für mich die stärkste an den 4. Mai 1945, den bis heute immer noch unglaublichen Tag meiner Befreiung in Hamburg durch die 8. britische Armee des Feldmarschalls Montgomery.

Nun entnehme ich der Presse, daß Sie in einer Ihrer Reden auch über die Zerstörung Dresdens in der Nacht vom 13. auf den 14. Februar 1945 sprechen wollen. Die Wahl gerade dieses Themas durch das deutsche Staatsoberhaupt hat mich, muß ich gestehen, verunsichert. Zumal Sie, dazu kritisch befragt, anfügten: „Ich habe überhaupt nicht vor, in dieser Frage noch mal Öl ins Feuer zu gießen.“ Darf ich meinerseits fragen: Welches Öl in wessen Feuer?

Offenbart Ihr Satz doch das Bewußtsein für eine Sorge, die durchaus berechtigt ist: daß nämlich das Jahr 1995 auch die große Stunde der professionellen Aufrechner werden könnte, die Hoch-Zeit unentwegter deutscher Verdränger. Und deren Paradebeispiel, ihr Lieblingsmodell, war und ist die Zerstörung Dresdens in jener Februarnacht durch die Halifax- und Lancasterbomber der Royal Air Force! Wer immer bei uns das Thema behandelt, er wird mit dieser unheimlichen Nachbarschaft zu rechnen haben – und einer äußerst schwierigen Abgrenzung zu ihr. Für die Szenen jener Dresdner Feuernacht gibt es keine Worte, die menschliche Sprache und Phantasie, sie reichen dafür nicht aus. Sage ich, der den Untergang Hamburgs zwischen dem 24. und dem 30. Juli 1943 in all seinen Schrecken miterlebt hat.

Doch eben diese Anteilnahme glaube ich am wenigsten jener Spezies von Zeitgenossen, die sie zur 50. Wiederkehr der schauerlichen Februarnacht am lautesten beschwören werden, dabei keineswegs nur aus der rechten Ecke kommend, sondern generationsübergreifend bis in die Mitte unserer Gesellschaft reichend, und die von mir in folgendem kurz die „Dresden-Ankläger“ genannt werden sollen. Da sie sich früh formierten, blicke ich auf fast ein halbes Jahrhundert Erfahrungen mit ihnen zurück. Davon, Herr Bundespräsident, möchte ich Ihnen berichten – nicht um Sie zu belehren, sondern um die zwei Bitten meines Briefes an Sie vorzubereiten.

Auffallend an den Dresden-Anklägern sind die einheitlichen Defizite ihrer Argumentation. Zu keiner Zeit reden sie davon, daß Europa bis zu jener Februarnacht durch die deutsche Aggression bereits seit sechs Jahren in Schutt und Asche gelegt worden war, oder davon, daß sich die Toten dieses Kriegs der nicht mehr begreifbaren Zahl von fast 50 Millionen genähert hatten. Ich habe darüber aus dem Munde der Dresden-Ankläger niemals eine Klage gehört.

Auch konnten sie mir nicht plausibel machen, worin eigentlich der Unterschied besteht zwischen der Zerstörung einer Stadt aus der Luft oder von der Erde aus. Nach dem deutschen Überfall vom 22. Juni 1941 auf die Sowjetunion sind allein dort 1.700 Städte durch Artillerie zerstört worden – auch dazu habe ich von den Dresden-Anklägern kein einziges Wort des Bedauerns vernommen.

Um so lebhafter aber ist ihre Empörung über den Zeitpunkt des Angriffs auf Dresden – „so am Ende des Krieges“. Soll das der perversen Logik dienen, daß die Zerstörung einer Stadt am Anfang oder in der Mitte des Krieges gerechtfertigter und für die Zivilbevölkerung weniger schrecklich gewesen sei? Ausgesprochen konsterniert reagieren die Dresden- Ankläger auch, wenn man ihre Forderung nach Schonung der Zivilbevölkerung im Luftkrieg untersucht auf die Frage, ob Deutsche sie schon in der Phase erhoben hätten, als Görings Geschwader noch den Himmel über Europa beherrschten, und nicht erst, als die Anglo-Amerikaner die Luftüberlegenheit gewonnen hatten.

Bezeichnender Vorfall: Als vor einiger Zeit Königin Elizabeth II. Dresden besuchte, hätte die britische Monarchin, wäre sie des Deutschen mächtig gewesen, auf einem von einem 70jährigen Mann hocherhobenen Transparent lesen können: „Royal Airforce – Kriegsverbrecher“. Daraufhin angesprochen, ob für ihn auch die deutschen Bomberpiloten Kriegsverbrecher seien, die während des Spanischen Bürgerkriegs, am 26. April 1937, das baskische Städtchen Guernica in Trümmer gelegt hatten oder die 1939 die verheerenden Luftangriffe auf Warschau, 1940 auf Rotterdam und 1941 auf Coventry geflogen hatten, gestand der Mann: derlei sei ihm selbst im Traum nicht eingefallen. Hier offenbarte sich Exemplarisches – Vorgeschichte wird grundsätzlich ausgeblendet, NS-Vergangenheit, wenn überhaupt, nur zur Aufrechnung bemüht: „Auschwitz gegen Dresden!“ heißt die Relativierungsdevise derer, die ansonsten bekanntlich den Massentod in den Gaskammern von Birkenau leugnen...

Immerhin kommt aber hinter dieser unsäglichen „Wir sind quitt“-Mentalität, dem Schein-As im Falschspiel der Aufrechnungsroutiniers, allmählich die zentrale These der Dresden-Ankläger zum Vorschein, sozusagen die Charta der Verdränger überhaupt: „Deutschland – ewig Opfer der Geschichte“! Im Mosaik dieser langlebigen These ist Dresden zwar ein gewichtiger Stein, aber keineswegs ihr historischer Beginn. Der wird weit zurück geortet, bis an den Anfang unseres Jahrhunderts, da, wo die „Einkreisung“ des Kaiserreiches durch andere europäische Großmächte vor 1914 zur eigentlichen Ursache des Ersten Weltkrieges erklärt wird. Nach dieser Lesart wird Deutschland dann, in ununterbrochener Kette: das Opfer des Versailler Vertrages von 1919; zehn Jahre später das der Weltwirtschaftskrise; nach Hitlers Machtantritt das Opfer des „appeasement“, also der Beschwichtigungspolitik der westlichen Demokratien, während der Zweite Weltkrieg kurzerhand zu einem „Vernichtungsfeldzug gegen Deutschland“ mutiert.

Nach 1939 wird es dann das Opfer der überlegenen alliierten Luftwaffe, nach der Niederlage das von Jalta und Potsdam, der „Siegerjustiz“, der Teilung in zwei Staaten sowie des Verlustes der Gebiete jenseits der Oder und Neiße. So unglaublich es klingen mag, die These „Deutschland – ewiges Opfer der Geschichte“ kriegt es fertig, die Verantwortung für die nationale Geschichte, und besonders für ihre Katastrophen, an fremde Mächte und Regierungen zu delegieren! Am weitesten trieben es dabei übrigens die konservativen Auslöser des sogenannten „Historikerstreites“: ohne den „Prius“, den Vorläufer GULAG, das sowjetische Repressions- und Lagersystem, so erklärten sie, hätte es – Auschwitz nicht gegeben.

Auch dieser singuläre „Zivilisationsbruch“ also wird noch in den Kahlschlag deutscher Selbsterlösung einbezogen. Einen „Täter Deutschland“ gibt es in dieser Weltsicht nicht. Das, Herr Bundespräsident, ist das verlogene Koordinatensystem, mit dessen Hilfe die deutschen Verdränger die schreckliche Nacht von Dresden seit jeher zur Entsorgung der deutschen Verbrechen zu mißbrauchen pflegen.

Es gibt drastische Einwände gegen die Order des britischen Bomber Command in High Wycombe vom Nachmittag des 13. Februar 1945, honorige Stimmen gegen die Strategie der Flächenzerstörung von Wohngebieten überhaupt. Schließlich kam massive Kritik auch aus den Reihen der ehemaligen Alliierten. Nur sollten sich gerade die Dresden-Ankläger nicht immer wieder darauf beziehen – bedeutet diese Haltung doch genau das, was sie demonstrativ vermeiden – Skrupel zu zeigen über die eigene Kriegführung.

Entsetzen, Trauer über die Hochofenvernichtung Dresdens – ja! Aber nicht im Schulterschluß mit den Lügnern von der „Auschwitzlüge“ und den Apologeten der These „Deutschland – das ewige Opfer der Geschichte“! Denn nichts, aber auch gar nichts kann an der Grunderkenntnis vorbeiführen: Hitler und das „nationale Kollektiv seiner Anhänger“ (Alexander und Margarete Mitscherlich), sie sind primär verantwortlich für jeden Militär- und Ziviltoten des Zweiten Weltkrieges, eingeschlossen die von Dresden!

Werden im Deutschland von 1995 dennoch jene falschen Ankläger am lautesten tönen, für die die Tragöde des 13. auf den 14. Februar 1945 nie etwas anderes war als ein Posten auf der Liste ihrer entseelten Totenarithmetik?

Sie, sehr geehrter Herr Bundespräsident, zu bitten, denen die Schau zu stehlen, das ist einer der vorn angekündigten Gründe, warum ich Ihnen diese Auslassungen zugemutet habe.

Hier der zweite: Mir ist bekannt, daß Sie sich innerhalb der jüdischen Gemeinschaft Deutschlands mit Ihren Auftritten in Warschau und in Israel große Sympathien erworben und manche Hoffnungen geweckt haben. Gleichzeitig aber weiß ich auch, wie rasch solche Empfindungen, nach allem, wieder verschüttet werden könnten. Ihr Beitrag zu „Dresden, Februar 1945“, wenn Sie ihn denn beisteuern sollten, wird darüber mitentscheiden.

Mit respektvollen Grüßen!

Ralph Giordano

Schriftsteller und Publizist