Anarchie im Äther ist machbar

Die JournalistInnen vom Ex-Piratensender „Radio Libertaire“ bestreiten mit wenig Mitteln ein politisch engagiertes Vollprogramm. Der Sender hat bis zu 100.000 ZuhörerInnen täglich  ■ Aus Paris Dorothea Hahn

Der vorpräsidentielle François Mitterrand konnte nicht ahnen, daß sein Beispiel am nachhaltigsten bei den AnarchistInnen Schule machen würde. 1981, kurz vor seiner Wahl in den Élysée-Palast, hatte er sich ostentativ an einem Piratensender beteiligt, der direkt aus dem Hauptquartier der Sozialistischen Partei ausstrahlte. Das Spektakel dauerte nur wenige Minuten – bis die Polizei kam und das improvisierte Studio beschlagnahmte. Doch die politischen Signale jener verbotenen Aktion wirken auch nach 14 Jahren noch nach.

Zeitgleich mit der Wahlkampf- Aktion hatten sich Dutzende französischer Organisationen daran gemacht, den Äther zu demokratisieren. Sie verbreiteten politische Ideen, proklamierten den freien Drogenkonsum und öffneten experimenteller Musik und unbekannten Künstlern neue Wege zur Öffentlichkeit. Wenn er Präsident werde, versprach Mitterrand den „Piraten“, könnten sie mit ihrer Legalisierung rechnen. Sie sollten Sendelizenzen für die Ultrakurzwelle (UKW) bekommen, die bis dato ausschließlich für die vier nationalen Sender reserviert war.

Anarchistische FunkerInnen waren in vorderster Reihe an der Äther-Piraterie beteiligt. Aus tragbaren Studios strahlten sie unter anderem „Radio Trottoir“ und „Radio Alarme“ im Pariser Raum aus. Die Erfahrungen italienischer Piratensender, mit denen die französischen Bastler in engem Kontakt standen, halfen ihnen immer wieder, den Fahndern der Polizei zu entkommen.

Im September 1981, als Frankreich bereits von einer sozialistisch-kommunistischen Koalition regiert wurde, schlossen sich ein paar Pariser Anarcho-FunkerInnen zusammen und gründeten einen gemeinsamen Sender. „Radio Libertaire“ nannten sie ihr Projekt – „die Stimme ohne Meister“. Es sollte allen einen Zugang zur Öffentlichkeit verschaffen, ohne Zensur, ohne Eingriffe von ModeratorInnen, ohne Werbung und ohne Rücksicht auf die Einschaltquoten.

Die Gründer von Radio Libertaire waren erprobt im Basteln, Piratensenden und in der politischen Agitation – journalistische Erfahrung hatten sie nicht. Ein Problem war das für sie nicht, vielmehr machten sie ein politisches Programm daraus: Bis heute wird niemand bei dem Sender für seine Arbeit bezahlt. Die MacherInnen – sowohl in der Technik als auch in der Redaktion – verdienen ihr Geld woanders, im Studio sitzen sie umsonst. Fast alle Programme sind live, Beiträge von vor Ort werden über Telefonleitung übertragen, und wenn die RedakteurInnen einer Sendung einmal verhindert sind, sagt das einfach jemand ins Mikrofon und spielt statt dessen Musik ein – „damit das Warten nicht so lang wird“.

Mit den Jahren sind Amateurfunker verschiedenster Provenienz dazugekommen – und längst nicht nur AnarchistInnen. Wer ein Projekt hat, muß es den Verantwortlichen vorstellen. Was anschließend in dem Studio im Pariser Stadtteil Montmartre passiert, kontrolliert niemand. Ganz egal, ob gerade Gespräche über die Bedingungen in französischen Knästen oder über den Flirt beim Konzert laufen. Im Studio von Radio Libertaire parlieren die TeilnehmerInnen so ungezwungen wie im Café. Fast nichts klingt so perfekt und glatt wie aus den Nachbarsendern. An guten Tagen bringt dieses Konzept weit über 100.000 ZuhörerInnen, besonders in Zeiten, wo Radio Libertaire in völliger Opposition steht, wie während des Golfkriegs.

Eingriffe in Programme gestatten sich die Anarcho-Funker nicht. Im Zweifelsfall nehmen sie Sendungen wieder aus dem Programm. So beendeten sie die Sendungen chinesischer StudentInnen, nachdem diese kein Französisch mehr sprachen, und „wir gar keine Ahnung hatten, was da eigentlich lief“, erinnert sich Gründungsmitglied Wally Rosell. Und eine haitianische Gruppe mußte ihr Programm einstellen, „weil es immer religiöser wurde“.

Auf die Einlösung des vorpräsidentiellen Versprechens von Mitterrand mußte Radio Libertaire jahrelang warten. Als andere Ätherpiraten längst zugelassen waren, gingen die Anarchos Mitte der 80er Jahre immer noch für ihre Lizenz auf die Straße. Immer wieder ignorierte die von der Regierung eingesetzte „Kommission Holleaux“ ihre Anträge. Immer wieder auch nisteten sich andere Funker mit starken Sendeanlagen so nah neben der anarchistischen Frequenz ein, daß deren Empfang gestört war. Die alternativen Radiomacher, die heute ganz legal auf UKW 89,4 den Pariser Raum mit einem Vollprogramm versorgen, sind überzeugt, daß hinter den Störmanövern politische Absichten steckten.

Viele andere ursprüngliche Piratensender haben sich in den 14 Jahren seit Mitterrands Rundfunkreform zu ansehnlichen privaten Medienunternehmen gemausert und ihre alte Linie über Bord geworfen. Der einstmals linke und engagierte Politiksender NRJ (gesprochen: énergie) zum Beispiel, sendet heute fast nur noch Musik und lange Werbeeinlagen. Damit hat er es geschafft, bis nach Berlin zu expandieren, wo er sich beim ehemaligen Alternativ-Sender „Radio 100“ eingekauft hat.

Radio Libertaire und eine Reihe kleiner Sender in Paris und der Provinz, die bis heute auf Werbung verzichten, stehen hingegen oft am Rande des Ruins. Ein Element des Mitterrandschen Reformprojektes hat ihnen zum Überleben verholfen: Die Kommerzsender müssen eine Steuer auf ihre Werbeeinnahmen bezahlen, mit der die kleinen unterstützt werden. Den nicht unerheblichen Restbedarf deckt Radio Libertaire aus Spenden ab.

Mitterrands Zeit im Élysée-Palast ist in einigen Wochen abgelaufen – die AnarchistInnen im Äther aber werden bleiben. Nachdem sie zusehen konnten, wie die orthodoxen KommunistInnen von Tirana bis Moskau abtreten mußten und wie auch die Sozialdemokratie einen großen Teil ihres politischen Kredits verspielte, sehen die Libertairen der Zukunft hoffnungsvoll entgegen. „Wer heute die Welt verändern will – ohne Kapitalismus – mit wem soll er das sonst tun, außer mit uns?“ fragt Wally Rosell.