■ Das Portrait
: A.B. Michelangeli

Rückzugskünstler Foto: Ullstein

Ähnlich wie bei Schachspielern wird es bei den Genies unter den Pianisten interessant, wenn sie sich in Klausur zurückziehen. So bei Glenn Gould, der sich in sein Studio in Toronto verkroch, um seine intrigaten Neufassungen der Klassiker zu puzzeln; und so bei Horowitz, der nach einer mehrjahrzehntigen labilen Phase die Carnegie-Hall mit bis aufs äußerste Neugierigen füllte.

Arturo Benedetti Michelangeli ist ob seines beständigen Zurückziehens berüchtigt. Die Zahl der oft erst in letzter Minute abgesagten Konzerte soll die der tatsächlich gegebenen noch übersteigen, eine Legende, die längst in die Enzyklopädien eingetragen ist. Hinzu kommt ein kleines Repertoire: Beethoven natürlich, Debussy, Schumann, Scarlatti – Werke mit denen man nicht zum Ende kommen kann. ABM (so wird er zärtlich von seinem Fan-Club genannt) ist als großer Bastler bekannt, als mit makelloser Technik und allen manuellen Fähigkeiten begabt.

Hier fängt allerdings die Arbeit am Tonwerk erst an. Zunächst muß es von allem Gewöhnlichen entkleidet werden. Vergiß, was andere daraus gemacht haben. Betrachte es, bis es als weißes, leeres Blatt Papier vor dir steht, worauf die musikalischen Linien noch einmal von neuem skizziert werden müssen. Dann die Atmosphäre des Stücks entwickeln, die Phrasierung, Artikulation, dramatische Anlage, die Nuancen. Eine lebenslängliche Aufgabe. Nur der getroffene Ton ist Musik.

Das ist weniger Meditation als harte Arbeit. ABM praktiziert seine Vervollkommnungsstudien schon seit geraumer Zeit. Am 5. Januar 1920 in Brescia geboren, lernt er zunächst Geige, dann Klavier. Mit dreizehn Jahren hat er das Konservatorium abgeschlossen, da konnte er alles, was man können muß. Mit achtzehn Jahren gewinnt er den Genueser Klavierwettbewerb – das ist einer der Turnierplätze für Konzertpianisten: der Sieger wird von der Prinzessin mit Lorbeer bekränzt. Seitdem konzertiert ABM sowenig wie möglich, um in der intimen Kammer seine Interpretationen noch richtiger zu machen.

Wenn dann einmal eine Aufnahme freigegeben wird, der Musikwelt in die Hände fällt und zeigt, wie es ihm um die Lösung der ewigen Pianistenrätsel zu tun war, feiert sie in der Regel, nachhaltig bereichert, ein Fest für Ohren und Herzen. Zu seinem 75. Geburtstag drücken wir dem Meister bewundernd und dankbar die Hände. Zart. Frank Hilberg