■ Jetzt muß die OSZE eingeschaltet werden
: Der rote Platz von Grosny

Der rote Platz von Moskau war ein Weltsymbol für die stabilisierte Lage des Kalten Krieges. Diktatur wurde allenthalben akzeptiert, denn Stalin hatte einen Superstaat zusammengepreßt, der sich mit Atomwaffen Kritiker aus aller Welt vom Hals hielt. Jetzt ist der Platz von Grosny rot. Vom Blut. Tote Tschetschenen, tote russische Soldaten.

Rußland ist atomare Weltmacht geblieben. Also Vorsicht mit der Kritik? Vorsicht mit den Einmischtönen? (Die massive Kritik, die seinerzeit gegen die Grenada- oder Panama-Aktion der USA aus ganz Europa zu hören war, war eigentlich eine Ehrenbezeugung vor der amerikanischen Demokratie.)

Von allen Atommächten betont Rußland am stärksten die wichtige Rolle der OSZE. Sie sieht in ihr das Gegengewicht gegen die westeuropäische Nato und möchte seine Nachbarn mit dem OSZE-Argument locken, sich von der Nato fernzuhalten.

Seit dem 1. Janaur 1995 gelten feste Regeln für die Mitgliedsstaaten der OSZE. Viele davon sind verletzt worden: Die OSZE verlangt, daß Minderheiten geschützt werden, daß Zivilpersonen nicht Ziel kriegerischer Angriffe sein dürfen, daß alle verfassungsrechtlichen Schritte, die für einen militärischen Einsatz vorgesehen sind, peinlich genau befolgt werden. Die OSZE verlangt, daß keinerlei Beeinträchtigung für die Medien geschieht. Im Grosny-Krieg wird all dies mißachtet. Das Parlament wird übergangen, die Journalisten werden von Grosny – gelegentlich äußerst brutal – ferngehalten. Auf eine tschechische Fotografin ist gezielt geschossen worden. Dudajew hatte seine Sezession völkerrechtlich schon vor der Verabschiedung der neuen russischen Verfassung erklärt. Seine Wahlerfolge sind mindestens so einwandfrei oder anzweifelbar wie die im übrigen Rußland.

Die OSZE kann – und sollte – eine Beobachtermission entsenden. Die OSZE kann und sollte ihre Vermittlerrolle für eine politische Lösung zwischen Grosny und Moskau anbieten. Eine OSZE, die jetzt zum roten Platz in Grosny schweigt, hat keine Schutzfunktion mehr für die vielen kleinen Staaten und Völker, die nach wie vor in ständiger Angst vor dem roten Platz in Moskau leben. Kinkel spricht das Todesurteil über die OSZE, wenn er sie in diesem Fall für nicht relevant erklärt, wenn er sich weigert, ihre Mechanismen in Gang zu setzen, wenn er seinem russischen Kollegen versichert, alles gehe mit rechten Dingen zu, von außen gebe es keine wirkliche Kritik am Vorgehen in Grosny.

Da sind sie wieder, die Staatsräsonisten. Ich erinnere sie nach dem Einmarsch in Afghanistan, nach der Gründung von Solidarność, nach der Bildung der Charta 77 in Prag: Wo kommen wir denn hin, wenn der eigene Besen vor der eigenen Haustür nichts mehr gilt. Das Blut kann ja der Rotkreuzlappen wieder wegwischen. Freimut Duve

SPD-Bundestagsabgeordneter, Mitglied des Auswärtigen Ausschusses und des OSZE-Parlaments