Vornehme Zurückhaltung

■ Die osteuropäischen Regierungen vermeiden Stellungnahmen zum russischen Krieg in Tschetschenien

Warschau/Berlin (taz) – „Der Krieg in Tschetschenien wird der Forderung der osteuropäischen Staaten nach Nato-Beitritt neuen Auftrieb geben.“ So lautete die Prognose zahlreicher Beobachter bei Beginn der russischen „Polizeiaktion“ gegen das Kaukasusvolk vor drei Wochen. Bisher jedoch halten sich die Regierungen in „Zwischeneuropa“ vornehm zurück. Selbst Tschechiens Präsident Václav Havel, personifiziertes Gewissen nicht nur seines Landes, sprach in einer kurzen Stellungnahme lediglich von einem „Konflikt im Rahmen der russischen Föderation“. Polnische Kommentatoren sehen durch den Feldzug ihre Meinung bestätigt, „daß Rußland aggressiv ist“, einen formellen Protest hat die polnische Führung in Moskau jedoch nicht eingelegt.

Es scheint, daß Osteuropas Diplomaten zur Zeit ganz froh sind, wenn sie ihre Meinung zu Tschetschenien nicht öffentlich bekunden müssen. Wenn der Westen sich zurückhält, so ist zu hören, warum sollten wir dann vorpreschen. Eine offizielle Protestnote gegen die Verletzung der Menschenrechte in Tschetschenien hat allein die estnische Regierung nach Moskau gesandt, nicht ohne sich eine scharfe Erwiderung Moskaus einzuholen.

Eine eindeutige Stellungnahme gab auch die georgische Regierung ab – jedoch zugunsten des russischen Vorgehens. Präsident Eduard Schewardnadse wandte sich gegen die Unabhängigkeitsbestrebungen der Nachbarrepublik und stellte fest: „Wenn Moskau die Abtrennung Tschetscheniens akzepziert, akzeptiert es auch das Auseinanderbrechen Rußlands selbst. Ich weiß keinen anderen Weg, dieses Problem zu lösen, als durch militärische Mittel.“ Und mit Bezugnahme auf die Unabhängigkeitsbestrebungen der Abchasen in Georgien: „Die Abtrennung bedeutet den Beginn der Anarchie auf dem europäischen Kontinent.“ Da die Abchasen zur Konföderation der Kaukasus-Völker gehören, die zur Unterstützung der Tschetschenen mobilisiert, wurde die georgische Grenze zu Rußland geschlossen.

Aktiver als ihre Politiker zeigt sich die Bevölkerung der osteuropäischen Staaten. Zwar hielten auch hier viele die Tschetschenen bisher für ein „Mafia-Volk“, doch nun forderten vor der russischen Botschaft in Vilnius Hunderte, Rußland solle Tschetschenien die Unabhängigkeit gewähren. Auch in Warschau zogen Demonstranten vor die Botschaft, in Kiew wurden Anhänger der nationalistischen Partei „Ukrainische Staatliche Selbständigkeit“ festgenommen, als sie versuchten, die russische Fahne einzuholen. Polnische Intellektuelle, darunter der Journalist Ryszard Kapuscinski, Nobelpreisträger Czeslaw Milosz und der Schriftsteller Andrzej Szczypiorski haben in einem offenen Brief an die russische Intelligenzija darauf hingewiesen, daß der Einmarsch der russischen Armee auch einen Schlag gegen die russische Demokratie bedeutet: „Der Fall Tschetschenien zeigt, wie lebendig bei einem Teil der Machthaber in Rußland noch die Gepflogenheiten der ehemaligen Sowjetunion sind.“ Zugleich blickten die Verfasser jedoch auch über ihren osteuropäischen Horizont hinaus: „Dieser Krieg ist wahrscheinlich der Beginn eines Konflikts mit der gesamten islamischen Welt.“

So sieht man das auch auf der Krim, wo sich nach der Vertreibung durch Stalin wieder mehrere hunderttausend Krimtataren angesiedelt haben, die mit den Tschetschenen die islamische Religion gemeinsam haben. Der Medschlis, das Parlament der Krimtataren, hat den russischen Einmarsch denn auch als „Verbrechen gegen das Völkerrecht“ bezeichnet und alle Organisationen in der Ukraine aufgerufen, den Tschetschenen zu helfen. Die nationalistische paramilitärische „Ukrainische Selbstverteidigung“ (UNSO) ist dem Aufruf gefolgt und hat mehrere Freiwillige auf Dudajews Seite in den Kampf geschickt.

Die Ukraine befindet sich daher in einer schwierigen Lage: Präsident Kutschma ist angetreten, die Beziehungen zu Rußland zu verbessern. Die Ukraine ist von russischen Rohstoff- und Energielieferungen abhängig und angewiesen auf russische Zurückhaltung auf der Krim, wo die russische Bevölkerungsmehrheit ebenfalls separatistische Neigungen an den Tag legt. Doch das Herz der Ukrainer, besonders im Westen des Landes, schlägt national, antirussisch und somit protschetschenisch.

Immerhin hat das Kiewer Parlament die russische Duma und den Föderationsrat inzwischen aufgefordert, das Blutvergießen einzustellen, und in seiner Resolution auch darauf hingewiesen, daß in Tschetschenien Ukrainer leben. Als die nationaldemokratische Opposition allerdings eine Debatte über Tschetschenien beantragte, stimmte die Mehrheit dagegen. Klaus Bachmann/Sabine Herre