Als Wolfgang Neuss noch Zähne hatte

Rias-Geschichte = (West-)Berlingeschichte? In Herbert Kundlers über 400 Seiten dickem Buch gibt es keine selbstkritischen Töne, aber gerade in einer Heldengedenkfibel läßt es sich ja durchaus genüßlich blättern  ■ Von Hans-Hermann Kotte

RIAS — sowohl das westliche Duden-Wörterbuch der Abkürzungen als auch der „Koblischke“, das kleine Abkürzungsbuch der DDR, führen ihn, den Rundfunk im amerikanischen Sektor. Einziger Unterschied: die Klammer dahinter. In der einen steht „Berlin“, in der anderen „Westberlin“. Der kalte Krieg war auch – und das nicht zu knapp – einer der Sprache, besonders der im Äther.

Heute, im Jahre 1995, gibt es den Rias, der sein fünfzigstes Jubiläum nicht mehr erreichte, weil er im Deutschland-Radio aufging, fast nur noch im Wörterbuch. Und als 400seitige Dokumentation des Rias-Journalisten Herbert Kundler. Er erzählt anhand zahlreicher Dokumente und Sendeausschnitte sowie großzügig bebildert die Geschichte „einer Radiostation in einer geteilten Stadt“. Kein wissenschaftliches Vorhaben, sondern ein Buch, das das „Lebensgefühl“ der Stadt vermitteln soll und klar parteilich von westlicher Seite „Erinnerungen an die schweren und frohen Stunden der Berliner Nachkriegsgeschichte wecken“ will, wie es im Verlagstext heißt.

Selbstkritik des Rias freilich bleibt dabei außen vor. Die „freie Stimme einer freien Welt“ sieht sich nur als solche. So schreibt Herbert Kundler, daß „die vom Politbüro der SED erzwungene Pervertierung von Rundfunk und Fernsehen“ weder „in die Kategorie der Auswüchse des kalten Krieges“ falle noch „aufrechenbar gegen die in der westlichen Medienarbeit zutage getretene Härte der politischen Auseinandersetzung“ sei. „Allen antifaschistischen Parolen zum Trotz knüpfte die SED-Medienpolitik an die auf höchste propagandistische Wirksamkeit ausgerichteten Strukturen des Dritten Reiches an.“

Im Rias dagegen, so Kundler, habe sich ein von der SED „durch Willkür, Manipulation und Verletzung der Menschenrechte herbeigeführter Antikommunismus formiert“ – „keineswegs der Antibolschewismus der NS-Ideologie“. Ein Persilschein für die Rias-Antikommunisten. Nix Frontstadtgesinnung? Von wegen. Denn diese zeigt sich auch im Buch – selbst noch an einem marginalen Beispiel: Der Pfeifkonzert-Orkan, dem sich Willy Brandt, Helmut Kohl, Walter Momper und Hans- Dietrich Genscher ausgesetzt sahen, als sie am 10. November 1989 vorm Rathaus Schöneberg das Deutschlandlied anstimmten, wird glatt unterschlagen.

Dennoch ein schönes Buch zum Blättern und Hängenbleiben, in dem man zum Beispiel auf eine – wohl nur noch wenig bekannte – Ironie der Geschichte stoßen kann. Ausgerechnet am 18. Juni 1953, einen Tag nach den Unruhen des 17. Juni in der DDR, ordnete der antikommunistische Hexenjäger McCarthy eine Überprüfung der US-Führungsetage des Rias an. Dagegen erhob sich heftigster Protest im Berliner Funkhaus. Die deutschen Programmchefs ehrenerklärten: „Die freie Welt hat eindeutig erkannt, daß sich der Rias als scharfe Waffe im Kampf gegen den Kommunismus seit Jahren bewährt hat. In diesen Tagen hat der Volksaufstand in Ost-Berlin und der Sowjetzone der ganzen Welt vor Augen geführt, mit welchem Geist der Rias seine Hörer erfüllt hat.“ Dieses vielsagende Selbstlob wird freilich von Autor Kundler verharmlost: Die Emphase der Erklärung sei „der Absicht geschuldet, McCarthy als unfähigen Ignoranten erscheinen zu lassen“.

Leider erinnert das Layout des Buches mit seinen vielen verschiedenen Schriftgrößen und -typen sowie willkürlichen Einschüben zu sehr an das einer üblichen Firmenchronik (kein Wunder, wurde die Publikation doch von der Rias- Pressestelle „betreut“).

Aber darüber kann die große Zahl der guten Bilder gerade noch hinwegtrösten: Gerhard Löwenthal, der spätere von Schnitzler des Westens, als Twen und „Blockade- Reporter“ des Rias; Wolfgang Neuss in vollendeter weißer Schneidezahn-Pracht; Discjockey Barry Graves, der 1976 schon den Techno-Look mit Wollmütze und Trainingsjacke vorwegzunehmen scheint. Und die ergraute Marlene Dietrich, die übernächtigt einer Tonbandaufnahme lauscht.

Daß das Buch im ganzen eine ziemliche Heldengedenkfibel für die Mauerstadt geworden ist, zeigt vielleicht am schönsten eine Fotografie des Arbeitszimmers des legendären Rias-Theater- und Kulturkritikers Friedrich Luft „in der Maienstraße 4 in Berlin-Schöneberg“. Ein klassischer Blick wie ins Goethehaus in Weimar, läge da nicht ein kleines Bandgerät samt Mikro auf dem Schreibtisch.

Herbert Kundler: „Rias Berlin – Eine Radiostation in einer geteilten Stadt“, Reimer Verlag, 423 Seiten, 48 DM