Orangerotes Schulzimmer

■ "Zero Patience", ein Comedy-Musical mit Brecht-Appeal über Patient No.1

So wie es manche Leute erleichtern würde, wenn sie den „zentralen Führerbefehl“ für alle Übel des Zweiten Weltkriegs fänden und damit die Gesellschaft entlasten könnten, so suchen – entschuldigen Sie den plumpen Vergleich – populistische Aids-Forscher und ihre Paparazzi seit geraumer Zeit den „Patient Zero“, den Schuldigen Nummer 1, der Aids nach Amerika gebracht haben soll.

Es gibt sogar einen Kandidaten. Er war Steward bei einer kanadischen Fluggesellschaft und soll Aids in den achtziger Jahren auf dem Luftwege nach Amerika eingeflogen haben. Logischerweise eignete sich sein Beruf hervorragend zur Metaphorisierung: Prompt hat die Boulevardpresse aus ihm den Todesengel gebaut, der Übles vom Himmel auf die Erde von God's own country trägt, ein apokalyptischer Reiter, der aus der Kälte kam. Dabei hat natürlich auch nicht gestört, daß allen seriöseren Studien längst zu entnehmen war, daß erste Aids- Fälle in den sechziger Jahren auftauchten.

„Zero Patience“, ein Film von John Greyson, ist diesem Patienten Zero gewidmet; als unsichtbarer Untoter gespenstert er durch die Gegenwart und sucht seine früheren Liebhaber heim. Traurig sieht er: Morituri te salutant, alle sind sie dem Tod geweiht.

Unversehens trifft er auf den viktorianischen Anthropologen Richard Burton, der gerade dabei ist, eine Ausstellung über Seuchen zu machen, deren Clou eben die Präsentation von Patient Zero sein soll. Hochmoderne Ausstellungstechnologie soll demonstrieren, daß es eben doch einen Kausalzusammenhang zwischen schwulen Lebensformen und HIV-Infektion gibt. Daß Burton uns aus dem 19. Jahrhundert erhalten geblieben ist, verdankt er einem Chemieunfall. Er kann nicht sterben.

Der Film reüssiert zunächst darin, daß er seinem Thema den gebotenen Ernst verweigert. Die Form, Musical cum Comedy, erlaubt den gravitätischen Trauer-Zugriff von zum Beispiel „Long Time Companion“ schlicht nicht; zugleich aber springt der Film auch nicht auf den von Priscilla angeführten Zug auf, der schwule Protagonisten durch die Camp-Hintertür in die Reihe des komischen Hollywood-Personals schmuggeln will. Weil er nämlich auch die Chronik vielfach angekündigter Tode ist, beginnt „Zero Patience“ mit einem kleinen Scheherazade-Arrangement: In einem orangerot gestrichenen Klassenzimmer erzählt ein kleiner Kerl die Geschichte der Prinzessin, die einem gemütlich veranlagten Königsmörder ihr Leben durch ineinandergeflochtene Geschichten abtrotzen mußte. Diese Gelegenheit erhält Zero jetzt hier eben auch.

Natürlich müssen Zero und der Professor zusammenkommen. Auf seinen Recherchen im schwulen Sub trifft Bacon auf Zero und erliegt seinen Arschbacken. Und sie werden ein Paar. Daraufhin läßt Bacon natürlich, vom guten Sex eines Besseren belehrt, sein homophobes Weltbild fahren; die in guter agitatorischer Absicht grob vereinfachten Medien des Schweinesystems müssen künftig ohne ihn Schwulenhatz treiben. Sein Leben wird reicher: Greyson fährt das gesamte Arsenal schwuler Paar-Ikonen auf. Gilbert and George, Pierre et Gilles, Tom of Finland und vor allem Cocteau (als Camp-Antidot). Zusammengehalten wird die ganze recht beschleunigte Konstruktion von mitunter etwas aufdringlich-brechtisch gehaltenen Songeinlagen, einem gewissen Didaktismus, der Spike Lee nicht passiert wäre, obwohl der selbstverständlich auch Agitprop macht.

Sie haben wohl gestern nacht ein wenig zu tief in ihren Theweleit geschaut, mein Fräulein, werden Sie gleich sagen, aber tatsächlich ist Zero eine Art Euridike, wenn er da so in den Hades zurückgeschickt wird, nachdem man ihn angesehen hat – beziehungsweise nachdem er eben gefilmt worden ist. Im Gegensatz zu einigen anderen modernen Krankheitsgeschichten – Nanni Morettis „Liebes Tagebuch“ beispielsweise – wird hier schamlos Optimismus und Ermutigung mobilisiert. Und null Geduld. mn

„Zero Patience“, Regie: John Greyson, Kamera: Mo Braszak. Mit: John Robinson, Normand Fauteux. Kanada, 1993, 100 Min.