Einordnung in die Geschichte?

■ Fünf Statements zur Frage, ob der 50. Jahrestag der Befreiung und Kapitulation Deutschlands eine Zäsur für die Gedenkkultur der Bundesrepublik bedeuten wird

Ludwig Baumann, Vorsitzender der Bundesvereinigung Opfer der NS-Militärjustiz:

„Wenn 1995 noch einmal der Ereignisse vor 50 Jahren gedacht wird, so ist zu befürchten, daß damit ein Schlußstrich unter die NS- Zeit gezogen werden soll, um sie in die Geschichte einzuordnen. Denn nicht die Verfolgten und Ermordeten bestimmen heute das Bild der Geschichte, sondern die Mitläufer und ihre Nachfolger.

So ist es möglich, daß die größte Blutspur der Hitler-Zeit, der Überfall der Wehrmacht auf die Sowjetunion, nicht als Holocaust bezeichnet wird, obwohl dabei mit der „Strategie der verbrannten Erde“ über 30 Millionen Menschen vernichtet wurden. Und so ist es auch möglich, daß wir Wehrmachtsdeserteure, welche sich diesem Völkermord verweigerten und dafür mit 30.000 Todesurteilen und über 100.000 Zuchthausurteilen verfolgt wurden, bis heute vorbestraft sind. Und unserer Opfer wird bislang nicht gedacht.“

Wolfgang Benz, Direktor des Zentrums für Antisemitismusforschung in Berlin:

„Wenn man sich wie wir dafür einsetzt, daß Erinnern etwas Alltägliches sein sollte, erntet man nur verwunderte Blicke. Aber Jahrestage sind so eingespielt, daß man sie nutzen muß. Besser die Politiker werfen sich an den runden Jahrestagen in den Frack und machen öffentlich, was uns angeht, als sie tun es gar nicht.

Wahrscheinlich werden nach diesen 50 Jahrestagen — alles Tage, die mit Schuld und Scham besetzt sind — die Abstände zwischen den öffentlich zelebrierten Erinnerungstagen größer. Das Problem wird sein, daß die Nachkommen der Täter keinen emotionalen Bezug zu den nationalsozialistischen Verbrechen mehr haben, die der Opfer hingegen schon.

Und die ganz große Gefahr nach 1995 könnte sein, daß alles zugedeckelt wird. Denn was jetzt nicht rechtzeitig auf dem Buchmarkt ist, hat keine Chance. Und was jetzt nicht mit dem Scheinwerfer beleuchtet wird, wird später endgültig vom Feiertagskalender gestrichen. Es hat keinen Unterhaltungswert mehr.“

Wolfgang Kraushaar, Politikwissenschaftler am Hamburger Institut für Sozialforschung:

„1995 wird – wenn nicht alles täuscht – das Jahr der Verabschiedung der großen Gedenkveranstaltungen und der Gedenkkultur der Bundesrepublik sein. Ein Teil der politischen Klasse wird glauben, sie habe damit historischen Ballast abgeworfen: Historisierung des Nationalsozialismus — die Nation denke, als habe es die Zäsur Auschwitz nie gegeben. Nach 1995 könnte sich eine neue Unbefangenheit einstellen, den politischen Willen dazu gibt es.“

Hans Mommsen, Professor für Neuere Geschichte an der Ruhr- Universität Bochum.

„Interessant ist, daß sich mit dem Eintreten in eine neue Zeit ab 1989 die Perspektive auf den Nationalsozialismus und den Zweiten Weltkrieg verändert hat. Die beiden großen Kriege, in denen es darum ging, Boden und Bodenschätze zu erobern, rücken zusammen. Beide hatten Ziele, die uns heute merkwürdig weit weg erscheinen. Der 50. Jahrestag nach Kriegsende sollte also ein Datum sein, an dem wir versuchen, eine Art Gesamtbilanz zu ziehen. Sicher ist, daß sich die deutsche Nation auf Grund dieser Erfahrungen fundamental gewandelt hat. Heute hätten wir auch zu diskutieren, was bei uns an Demokratiereform noch möglich ist, wenn die Klammer, Erfahrung von Krieg und Nationalsozialismus, keine mehr ist.“

Wolfgang von Stetten, Bundestagsabgeordneter, CDU, Entschädigungsexperte

„Für mich ist der 50. Jahrestag des Kriegsendes kein Freudentag. Zwar endete damit die Diktatur der Nationalsozialisten, es begann aber auch das große Leid von zwölf Millionen Vertriebenen, weil eine andere menschenverachtende Ideologie grausame Rache übte. Der 50. Jahrestag sollte uns aber auch dazu bringen, diejenigen, die die grauenvollen Schreckensjahre in KZ und Ghetto überlebt haben und dafür — weil sie 40 Jahre hinter dem Eisernen Vorhang eingeschlossen waren — keine Entschädigung erhielten, wissen zu lassen: Wir haben euch nicht vergessen.

Wir dürfen nicht die wenigen hundert Juden aus dem Baltikum auf die Stiftung für Verständigung und Versöhnung für Russland bzw. Weißrussland verweisen. Es kann doch nicht sein, daß Deutschland diejenigen, die von Nationalsozialisten geschunden wurden, auffordert, bei den ehemaligen Nachfolgeunterdrückern um Entschädigung nachzusuchen. Das ist unmenschlich, noch dazu, wenn man bei der Antragstellung in Moskau versichern muß, nicht ,regimefeindlich‘ gewesen zu sein. Der 50. Jahrestag sollte als Anlaß dazu dienen, dies zu korrigieren.“

Fragen: Anita Kugler,

Hans-Hermann Kotte