Sanssouci
: Nachschlag

■ Ohne Kiezfriseur Theaterkritikerin sein?

Ich will ganz unwesentlich aus dem Leben einer Theaterkritikerin plaudern. Wo sie zum Friseur oder einkaufen geht, ihren Müll oder Kopf entleert. Meine Mutter ließ sich früher bei ihrem Friseur „kämmen“, bevor sie, Nur-noch-Gattin eines Musikkritikers, diesen am Abend ins Konzert begleitete. Was für ein Aufstand war das vor etwa zwei Jahren, als die bis dahin immer als Privileg geltende zweite Karte für die Berliner Kritiker nicht mehr ganz umsonst war (für einige ist sie das noch immer, aber zu denen gehört unsereins ja doch nicht). Groß war auch die Erschütterung der Zunft in Hamburg, als man in der Ära Liebermann darüber nachzudenken wagte, die Opernpremieren vom Donnerstag womöglich auf den Dienstag zu verlegen! Schließlich haben auch in Hamburg die Friseure montags zu.

Im Wedding sind gute Friseure Mangelware. Dafür gibt es jede Menge Salons – bei Sabine, Monika, Gabi, jede Frau meiner Generation kann sich vertrauensvoll an eine Namensvetterin wenden – und Mittwoch ist Kindertag, das kostet pro Jahr & Göre eine Mark. Zwischen diesen Salons gibt es wieder andere Salons, und auch die sind keine literarischen Anlaufadressen: etwa der Togo-Waschsalon, frisch renoviert und um eine Naßreinigung erweitert, was etwa so erheiternd ist wie die Einführung von Trockenhaarshampoo vor einigen Jahren. Eishockey-, Motorcycle- und Countryclubs, die proletarische Subkultur lebt, das Afrikanische Viertel vibriert – bloß ohne jedes multikulturelle Taktgefühl. Fühl' ich mich im (nicht auf dem) Kopf unwohl, dann geh' ich aus, mit Sack & Pack & Kind. Die Müllerstraße rauf und runter, von der Afrikanischen bis zur Chaussee, in ihrer Mitte immerhin ein Karstadt, gegenüber Woolworth, kein Kaffee(salon) nirgends. Neben dem Rathaus wenigstens eine kleine Musikalienhandlung und der Juwelier, der mir meinen Ehering auf das richtige Maß zurechtstutzte. Der erzählte mir von einem Experiment, das in einem mittelalterlichen Kloster stattgefunden haben soll: Nonverbale Erziehung. Die Kinder erhielten alles, Essen, Trinken, bloß keine Fürsprache, woraufhin sie bald starben.

Die Kinder im Weddingschen Togo, Kongo, Kamerun und Guinea brauchten sich bislang um ihr physisches und psychisches Wohl nicht zu sorgen. Bis vor kurzem hatten sie eine Anlaufstelle, wo es immer auch etwas geschenkt gab: die alte Pralinenfrau gegenüber vom Togo-Waschsalon. Stangeneis, Wundertüten, Überraschungseier, kleine 50-Pfennig-Säckchen mit Mäusespeck, Colaflaschen u.ä. haben sie bestimmt nicht reich gemacht. Wer bei ihr Kekse kaufte, kam dagegen reichlich abgefüllt nach Hause; alle Sorten mußten gekostet werden. Madame ist alt und gebrechlich geworden. Geschichten, die das Leben schreibt, können nun nicht mehr aufgeschrieben werden. Das Geschäft hat zugemacht, wie fast alle in dieser Straße. Nun kann auch die Theaterkritikerin dort keine Vorräte mehr bunkern, die sie in tristen Pausenzeiten (wer kann sich bei diesem Zeilenhonorar ein Glas Sekt zu acht Mark leisten?) verzehren konnte – und wird jetzt im Theater wohl verjüngern und versauern.

Kein Szenefriseur, keine Pralinenfachfrau und ein miserables Honorar – soll ich lieber den Wohnort oder die Berufung wechseln? Sabine Seifert