Die Wüste lebt wieder

■ Das neue Bremer Tanzensemble: „Das kalte Gloria“ von Urs Dietrich und „Also Egmont, bitte“ von Susanne Linke

Susanne Linke und Urs Dietrich, die neuen Leiter des Bremer Tanztheaters stellen ihr neugebildetes Ensemble in der Premiere ihrer beiden ersten in Bremen entstandenen Arbeiten vor. Zwei ausgeprägte Choreographen-Individuen, aber mit gleichem Beweggrund: die elementare Kraft, die in Menschen fährt und sie bewegt, die sie über sich hinausführt, die sie zueinander zieht und aus zweien oder vielen eins macht: der Tanz. Er ist zugleich das Thema beider Stücke.

Der Abend im großen Haus am Goetheplatz beginnt mit Urs Dietrichs „Das kalte Gloria“, 1988 entworfen und jetzt neu bearbeitet. Der Anfang zeigt das Ende: Eine Frau gleitet auf leerer Bühne wie an Schnüren gezogen, eine Marionette unter fremdem Willen, läßt sich widerstandslos von den Männern, die aus den Kulissen stürmen, hopp nehmen. Dietrichs „Kaltes Gloria“ erzählt die Gefährlichkeit des Tanzes.

Zuerst bewegt sich die Unschuld. Mädchen in weißen Hemden sehen sich gegenseitig was ab, elektrisieren sich. Der eigene Tanz entsteht für jede durch die anderen, das ist hinreißend zu sehen. Und von Beginn an droht die Gefahr der Erstarrung in der Uniformität. Alle machen nach, was eins der hemdenmätzigen Mädchen vortanzt Ihre Form gilt, nur ihr Hemd hat die richtige Länge. Eine kommt dazu, deren Hemd ist zu kurz und eine, deren Hemd ist zu lang. Die tun sich zusammen, von ihnen gehen neue Erfindungen aus, oder Protest.

Meistens Stille, mal ein großes Atmen, plötzlich eine Musik, ein Vivaldi, als hätte man noch nie einen gehört, eine Frische, ein Sog, auf der Bühne alle in einer Bewegung. Allmählich kippen die eigenen Bewegungen um in den Drang und Zwang der Gruppe. Plötzlich haben alle Anzüge an, auch die letzte hastet in die Uniform, am Ende stehen alle an der Rampe „wie ein Mann“. Sie laden imaginäre Gewehre, eine Frau beginnt zu lachen, sie bleibt allein auf der Bühne mit dem Schrei.

Die Bühne bleibt leer, bei Dietrich wie bei Linke, die Kostüme geben sparsamen Hinweis, auch Musik gibt es nicht immer. Dieses Tanztheater ist sehr selbstbewußt. Es konzentriert sich auf sein Medium, den menschlichen Körper und das nur ihm eigene Thema, die Bewegung. Das ist genug.

Nach Dietrichs gefährlicher Seite des Tanzes, die in dem verzückend Berückenden liegt, bringt Susanne Linkes „Also Egmont, bitte“ den Tanz in die Situation des Tänzeralltags. Der stellt sich ein durch das Einspielen einer Orchesterprobe von Beethovens Egmont-Ouvertüre mit allem stop and go. Ein schier zauberhafter Einfall! Beethoven, alleweil auf dem Weg ins Heroische, die Tänzer in großer Diagonale auf dem Weg ins Jenseitige, zu dem sie die Blicke schon erhoben haben, und dann hört man auf dem Band den versonnen sächselnden Rudolf Kempe die Probe abklopfen. Die Musik stockt. Die Tänzer, aus dem großen Strom der Musik gekickt, müssen erfinden, notfalls die Musik aus dem Inneren ergänzen, sich einen Partner suchen, der sie auch hört, der in der großen Unsicherheit, die die Freiheit ist, die Form findet.

Paare bilden sich: Mann und Frau, die den Tanz nebeneinander beginnen, tiefernst, alles entscheidet sich im Exercitium. Zwei Männer, mit dem Hang zum Senatorialen finden Gefallen aneinander, bleiben beieinander; die Negligees, die alle tragen, werden an ihnen zu Senatorentogen.

„Also Egmont, Bitte“ hat etwas sehr Leichtes, ein ironisches Changieren zwischen Heiligem und Profanen, das doch das gleiche ist, nämlich die schweißtreibende Arbeit am Rausch des Tanzes.

Volk von Bremen, Du darfst aufatmen. Die Zeit, da man wie erstarrt und verprügelt aus Veranstaltungen schlich, die doch Tanztheater hießen, sind ausgestanden. Man tritt heraus, und könnte tanzen und schwatzen.

Auf der Bühne nicht mehr geschundene, gescheuchte und gezerrte Marionetten, die der Zorn ihres Herrn an kurzen Drähten bewegt in Blut und Wut, sondern Menschen, denen man gern auf Haut und Haar und Arm und Bein sieht und durch die die Bewegung geht wie ein Strom, sehr einfach und sehr wunderbar.

Die Welt ist wieder spannend geworden, es gibt Leute im Tanztheater, die stellen sie auf die Probe, die hämmern uns nicht ein, daß sie von Gesetz wegen schlecht ist und aus guten Opfern und bösen Tätern besteht. Das Gefährliche ist aus dem gleichen Stoff wie das Hinreißende auch.

Das Volk von Bremen, sofern anwesend, hat getrommelt, mit den Händen, und gepfiffen, ein Buhrufer war auch da.

Uta Stolle

Nächste Aufführung: heute 19.30 Uhr