Der rockende Handverkäufer

■ Gesichter der Großstadt: Der englische Rocksänger Collin Dorn verkauft in Kreuzberg seit zehn Jahren allabendlich die taz / Und jetzt auch noch Kartoffeln und Gemüse

Was, Sie kennen Collin nicht? Ja wo leben Sie denn? Jeder, der schon mal abends in einer Kreuzberger Kneipe gehockt hat, kennt den netten taz-Handverkäufer. Wenn in einem italienischen Restaurant die Tür aufgeht und jemand „Spaghetti-Skandal!“ schreit, wissen Eingeweihte Bescheid. Der Collin, der erfindet eben manchmal seine eigenen Schlagzeilen. Also kein Grund, nervös zu werden. So wie der Mann, der einmal vor Aufregung eine Flasche Wein umkippte und zitternd hinter dem Zeitungsmann herrannte: „Spaghetti-Skandal? Ich hab' doch grad Spaghetti gegessen...“ Wenn der gebürtige Engländer Collin Dorn seine kleine Geschichte erzählt, klingt sie noch viel drolliger: „Der Mann“, lacht er, „ist total rot gegangen.“

Zehn lange Jahre macht der 39jährige den Job schon, sechsmal die Woche zieht er zweieinhalb Stunden lang durch Dutzende von Kneipen, und, o Wunder, es ist ihm immer noch nicht langweilig dabei geworden. „Weißt du“, sagt er, „ich kenne die Leute teilweise seit zehn Jahren, ich rede mit ihnen, und wenn es nur kurz ist, ich kriege viel mit. Zum Beispiel seh' ich einen Typen mit einem Mädchen, und eine Kneipe weiter wartet seine Freundin...“

Er kennt die Szene, die Szene kennt ihn. Aber nicht alle wissen, daß der quirlige Collin Dorn eigentlich drei Leben gleichzeitig lebt: im ersten geht er mit der taz hausieren, im zweiten verkauft er Kartoffeln, im dritten macht er Musik. Das dritte ist dabei eigentlich sein erstes: Als er 1978 nach Deutschland kam, nach Nürnberg, war es wegen eines LP-Vertrags. Er war Rocksänger, Songschreiber, schulischer Gesangslehrer und Profimusiker, er spielte in der Chris-Evens-Band, er produzierte diverse Platten und CDs und hatte mehr als tausend Auftritte. Aber die Musikerkarriere wurde immer mühsamer, und Collin entschloß sich, in Berlin einen Traumjob bei der taz anzutreten. „Anfang 1985 hab' ich ein Mietauto vollgepackt mit meinem Müll“, erzählt er. „Auf der Fahrt nach Berlin hat man mich geblitzt, ich hatte einen Unfall, und als ich ankam, war die Wohnung weg, die man mir versprochen hat, und der Job auch.“ Da stand er nun mit seinem Krempel. Wenigstens die taz war ganz nett und bot ihm wenig später eine andere Tour für den abendlichen Handverkauf an.

Jetzt singt er nur noch gelegenheitshalber. „Im Yorckschlößchen und im Bebob hab' ich dafür schon mal die Zeitungen weggelegt“, sagt er. Letztes Jahr ist eine CD von ihm erschienen („Tonight“ von der „Flexmen Group“), dieses Jahr soll wieder eine rauskommen. Aber eigentlich findet er die Berliner Musikszene ziemlich traurig: „Zu viele Musiker haben hier zu wenig bezahlbare Übungsräume, das gibt immer Streit. Der Senat steckt Millionen in die Opern und nichts in die Rockmusik. Und die wenigen Kneipen, die noch Live- Musik anbieten, kriegen ständig Strafen wegen Lärmbelästigung der Nachbarn. Im Bebob gibt es schon seit einem halben Jahr keine Auftritte mehr.“

Collin kennt sich aus in seinem Revier. „Kreuzberg verkommt immer mehr“, findet er, und die lustige Verschmitztheit verschwindet aus seinem Gesicht. Die Menschen vereinzeln immer mehr, sagt er. Die Kälte nehme zu, der Drogenkonsum und die Kriminalität. Der Heroinhandel, der sich vom Kotti in die Gneisenaustraße verlagert habe, werde zunehmend von nichtdeutschen Banden kontrolliert. Und daß die Deutschen darüber kein Wort verlieren, aus Angst, als Rassisten zu gelten, das nennt er „das Rezept für eine Katastrophe“.

Collin aber dealt mittlerweile ebenfalls – mit Mohrrüben und Kartöffelchen. Vor einem Jahr hat er zusammen mit drei Freunden eine Gemüsefirma gegründet, die – auf deren Wunsch – den Namen „Kartoffel-Collin“ trägt und vorzugsweise Restaurants und Kneipen beliefert. Nachts oder morgens bis nachmittags fährt Kartoffel- Collin nun Grünzeug spazieren, abends die taz. Die Tour ist die gleiche, und manchmal trifft er morgens und abends auch die gleichen Schnapsnasen. „Die Leute“, sagt er, „müssen einen verrückten Eindruck von mir haben.“ Ute Scheub