Die Nützlichkeit der Täuschung

■ Leichter leben mit Lügen: David Nybergs „Lob der Halbwahrheit. Warum wir so manches verschweigen“ – eine Rezension in sechs halbwahren Beispielen

Wer die Wahrheit sagt, sollte sein Pferd gesattelt lassen.

Kaukasisches Sprichwort

1. Der kleine George Washington hatte zu seinem sechsten Geburtstag eine scharfe Kinderaxt bekommen und diese sogleich an dem wertvollen englischen Kirschbäumchen in des Vaters Garten erfolgreich getestet. Der Baum war tot, der Vater rot vor Zorn. Doch der kleine George, nach dem Täter befragt, antwortete betrübt: „Ich kann nicht lügen, Papa; du weißt, ich kann nicht lügen. Ich habe ihn mit meiner kleinen Axt zerhackt.“ Daraufhin Vater Washington mit Tränen der Rührung in den Augen: „Komm in meine Arme, liebster Junge, ich will mich darüber freuen, daß du meinen Baum zerstört hast, denn du hast es mir [mit deiner Ehrlichkeit] tausendfach wiedergutgemacht.“

Eine sehr hübsche Geschichte, nicht wahr? Hundert Jahre lang wurde amerikanischen Schulkindern anhand dieses vorbildlichen Verhaltens ihres Übervaters der Wert der Wahrheit nahegebracht. Der einzige Haken: Sie ist nicht wahr. Der Wert der Wahrheit, vermittelt mit einer Lüge.

2. Eine Gruppe von Patienten sieht im Fernsehen eine Wahlkampfrede Ronald Reagans. Die eine Hälfte der Zuschauer biegt sich vor Lachen, die andere sieht mit versteinerten Gesichtern verständnislos zu. Erstere leiden unter rezeptiver Aphasie, das heißt, sie können Wörter nicht als solche verstehen, leiten die Bedeutung von Sprache aus der Wortmelodie, aus Gesten und Expressivität, aus Augen und Gesichtszügen des Sprechers ab. Es ist unmöglich, solche Menschen anzulügen, mit unfehlbarer Präzision erfassen sie den körperlichen Gesamtausdruck, der die Worte begleitet. Die Unstimmigkeiten in der Schauspielerei, mit der Reagan seine Rede begleitete, war so erheiternd, weil er mit großem Gestus etwas anpries, das gar nicht da war.

Ähnlich verständnislos reagierten Patienten, die unter tonaler Agnosie litten. Ihnen bleibt genau das verschlossen, was Aphasiker einzig aufnehmen: Expressivität und Ausdruck. Nur einzelne Wörter und Grammatik werden verstanden. Ihr Kommentar zur Reagan-Rede: „Er ist nicht überzeugend. Er gebraucht die falschen Worte. Entweder ist er hirngeschädigt, oder er hat etwas zu verbergen.“

3. In der Tierwelt gibt es Glühwürmchen, die den Code ihrer Lichtsignale ändern können, so daß Männchen oder andere Spezies zuerst angezogen und dann von ihnen gefressen werden. Und Fische, die einen kleinen Bissen ihres eigenen Fleisches als Köder auslegen, um so Angelockte aufzufressen. Es gibt Vögel, die herumhumpeln, um die Lage ihres Nestes nicht zu verraten. Und das Opossum, das sich tot stellt, um sein Leben zu retten.

4. Philip Roth besucht seinen greisen Freund und Schriftstellerkollegen Bernard Mallamud. Der hat im hohen Alter noch einmal einen Roman begonnen und liest seinem Freund vor, um dessen Meinung zu erfahren. Doch es ist fast nichts, was ihm vorgelesen wird, Mallamud hat eigentlich noch gar nicht richtig angefangen – ein dürres Manuskript in den Händen eines gebrechlichen alten Mannes. Roth windet sich, nun ja, das sei ein Anfang wie alle Anfänge, der Erzählfluß beginne vielleicht etwas langsam, er solle doch etwas weiter hinten anfangen. Für Mallamud war das schon zuviel der Wahrheit. Er wollte einfach hören, daß das, was er unter größter Anstrengung aufgeschrieben hatte, mehr sei, als es, wie er selbst im Grunde wußte, wirklich war. „Er litt so sehr, daß ich mir sehnlichst wünschte, ich hätte sagen können, daß es wirklich mehr sei – und daß er mir, wenn ich's gesagt hätte, auch geglaubt hätte.“

5. Die Bewohner des kleinen südfranzösischen Dorfes Le Chambon hatten zur Zeit des Vichy-Regimes Tausende jüdischer Flüchtlinge versteckt. Mit Hilfe von Tricks, Heimlichkeiten und Lügen wurde bis zum Ende der Besatzungszeit das große Geheimnis gehütet.

Es war der Pfarrer André Trocmé, der die Bewohner des Dorfes mit seiner tief verwurzelten Moral geprägt hatte. Zu dieser Moral gehörte für ihn jedoch auch das Prinzip: „Lüge niemals.“ Er stand auf der Todesliste der Gestapo und wurde in Lyon mit falschem Paß verhaftet. Er erwartete die Frage, ob dies sein richtiger Name sei, und er hätte ehrlich geantwortet, auch wenn das seinen Tod und auch den Tod seine Sohnes bedeutet hätte. Man stellte ihm die Frage nicht, und mit viel Glück entkam er schließlich, ohne gelogen zu haben.

6. Und schließlich Ödipus: „Das zu genau erforschte Leben kann sich als unerträglich erweisen.“ Oder David Nyberg: „Völlige Klarheit und Offenheit in dem gefährlichen Spiel namens Selbsterkenntnis könnten auch Zerstörung mit sich bringen.“ „Schwierige Realitäten“ müsse man einfach umgehen, und sei es nur aus Angst, „als die enttäuschende Persönlichkeit entlarvt zu werden, die wir unseren tiefsten Gefühlen nach wirklich sind“.

In David Nybergs amüsantem und gelungenen Buch geht es nicht um den Abschied vom Prinzip Wahrhaftigkeit im gesellschaftlichen Diskurs, noch nicht einmal um die allgemeine Rechtfertigung von Lügen. Es geht um Halbwahrheiten aus Mitleid, um Selbsttäuschung aus Gründen der Selbsterhaltung, um Höflichkeit, um die Natürlichkeit von Täuschungen, um die Nützlichkeit erfundener Anekdoten und um die Lüge nur zum Zwecke der Lebensrettung. Ein moralisches Buch, ein verantwortungsethisches Buch, das in unzähligen Beispielen die Halbwahrheit um eines „anständigen Lebens“ willen lobt. Ein gutes Buch, soviel ist wahr. Volker Weidermann

David Nyberg: „Lob der Halbwahrheit. Warum wir so manches verschweigen.“ Junius Verlag Hamburg 1994. 304 Seiten, 39,80DM.