Wer urteilt über wen und wie?

Verpaßte Gelegenheit oder Chance: Nach den Stasi-Offenbarungen der ORB-Kultfiguren Lutz Bertram und Jürgen Kuttner gehen die Meinungen über die Chancen einer Debatte auseinander  ■ Von Uwe Rada

Wer geglaubt hat, der „Fall Bertram“ würde bei seiner Fan-Gemeinde in Brandenburg und Berlin trotzige Solidarisierung, mindestens aber wohlwollendes Schulterzucken nach sich ziehen, lag falsch. Lutz Bertram, der nach dem Bekanntwerden seiner Arbeit als Stasi-IM gestern morgen zum vorläufig letzten Mal als ORB-„Frühstücksdirektor“ agierte, mußte sich von seinen Hörern mehr Fragen gefallen lassen, als ihm offensichtlich lieb war. Sosehr manche Bertrams drohende Erblindung als Motiv für die Stasi-Kontakte nachvollziehen mochten, so sehr herrschte Unverständnis über das bisherige Schweigen des Starmoderators, der ansonsten kein Blatt vor den Mund nimmt. Selbst jene, die die „Stimme des Ostens“ zum Weitermachen aufforderten, fügten am Ende hinzu, daß man damit allerdings warten solle, bis sich herausgestellt habe, ob Bertram durch seine Stasi-Tätigkeit Personen geschadet habe oder nicht.

Sind die eigentlich als „rote Socken“ verschrieenen Brandenburger und Ostberliner fähiger zur gesellschaftlichen Auseinandersetzung um Staatssicherheit und IM- Biographien als die Politiker aus dem Westen, die mit ihrer Schwarzweißmalerei lange Zeit die öffentliche Debatte bestimmt haben? Der Ostberliner Verleger Christoph Links jedenfalls ist optimistisch. Er bemerkte in den gestrigen Hörerreaktionen vor allem einen Hinweis darauf, daß die Stasi-Debatte „heute anders geführt wird als noch vor drei Jahren“. Sowohl die IM-Tätigkeit Bertrams als auch die Stasi-Gespräche des ORB-„Sprechfunk“- Moderators Jürgen Kuttner böten, so Links, „endlich die Gelegenheit, das gesellschaftliche Klima für eine differenzierte Auseinandersetzung zu schaffen“.

Eine Auseinandersetzung, bei der nicht nur über die konkrete Schuld der Betroffenen, sondern auch über Pauschalisierungen, Selbstgerechtigkeit, über Sackgassen und Irrwege geredet werden muß. Wolfram Kempe, Ost-Autor und Journalist, der jene IMs in seinem Bekanntenkreis, die ihm gegenüber die Auseinandersetzung gesucht haben, auch heute noch zu seinen Freunden zählt, fordert deshalb eine Debatte unter denen, „die das etwas angeht“. Die Verantwortung dafür, daß es seit 1989 vor allem Politiker aus dem Westen waren, die über Schuld, Absolution und persönliche Verstrickungen im Osten richteten, sieht er aber auch im Schweigen der Verstrickten. „Hätten Leute wie Kuttner“, meint Kempe, „sich bereits wie Reiner Börner (ehemaliges Volkskammermitglied und im Bundesvorstand der PDS, heute Inhaber eines Plattenladens, d.Red.) 1990 offenbart, wäre die Chance größer gewesen, daß wir selbst diese Debatte bestimmt hätten und sie uns nicht von außen aufgedrängt wird.“

Auch die Bürgerrechtlerin Bärbel Bohley glaubt, daß Börners Beispiel mehr Nachahmung verdient gehabt hätte. Gerade Börner, sagt sie, habe durch das frühzeitige Bekanntgeben seiner Stasi- Mitarbeit „als Mensch nur gewonnen“. Es sei eben, meint Bärbel Bohley, ein Unterschied, „ob man wie Börner den rechten Augenblick wählt oder wie Bertram den günstigsten“. Doch muß ein günstiger Augenblick zwangsläufig ein unrechter sein? Verleger Christoph Links erinnert an die Zeit von 1990 und bezweifelt, ob zu einer Zeit, in der in Halle die Stasi- Listen kursierten und die Boulevardpresse zur fröhlichen Hetzjagd blies, tatsächlich ein Klima bestand, das eine ehrliche Auseinandersetzung ermöglicht hätte.

Ob ein solches Klima heute besteht, wird sich nicht nur am Umgang mit Bertram und Kuttner zeigen, sondern auch an deren Bereitschaft, sich diesem Umgang zu stellen. Eine Chance, die auch Klaus Wolfram sieht. Der ehemalige Herausgeber der ehemaligen Bürgerbewegungszeitung Die Andere findet zwar den Zeitpunkt der „Selbstoffenbarung“ von Kuttner und Bertram „nicht sonderlich toll“. Dennoch wehrt er sich gegen die pauschale Forderung, beide müßten abtreten. Es wäre, meint Wolfram, vielmehr hilfreich, wenn gerade Kuttner und Bertram ihre Popularität in den Dienst einer tatsächlichen Auseinandersetzung stellen. Beide seien schließlich keine Politiker, die man einfach absetzen könne, sondern Teil der ostdeutschen Öffentlichkeit, in der eine solche Debatte geführt werden müsse.