Unterricht im Fach Großstadt

Mit ungewöhnlichen Methoden will der neue Bürgermeister Antanas Mockus dem Moloch Bogotá zu Leibe rücken  ■ Aus Bogotá Ralf Leonhard

Santa Fé de Bogotá, die kolumbianische Metropole, auf 2.800 Meter Höhe in den Anden gelegen, ist eine Brutstätte für Gewalt und Neurosen. Über sechs Millionen Menschen kämpfen hier um ihr Überleben. In dem Moloch gibt es über 600.000 Fahrzeuge, die sich durch das hoffnungslos überlastete Labyrinth von 10.600 Straßenkilometern von Stau zu Stau schieben und alljährlich über 300.000 Tonnen Giftstoffe in die dünne Luft blasen. Der durchschnittliche Bogotaner verbringt, so wissen es die Statistiken, 1.092 Stunden in einem Transportmittel. Das sind nicht weniger als 45 Tage jährlich. Gepaart mit der allgegenwärtigen Gewalt, der Arbeitslosigkeit, dem Ärger mit der als korrupt und ineffizient bekannten Obrigkeit und aufsässigen Nachbarn, hinterläßt der Streß bei jedem vierten Einwohner Depressionen oder Angstzustände. Allein im vergangenen August gestand eine halbe Million Bogotaner, sich mit Selbstmordgedanken getragen zu haben.

Generationen von Politikern haben sich an dieser Stadt die Zähne ausgebissen, die eigenen Taschen gefüllt und ein größeres Chaos hinterlassen, als sie vorgefunden hatten. Die meisten Bogotaner wollen daher von der Politik nichts mehr wissen. Bei den Kommunalwahlen vom 30. Oktober letzten Jahres blieben drei Viertel zu Hause, und von den Restlichen gaben fast zwei Drittel ihre Stimme dem parteilosen Mathematiker und Philosophen Antanas Mockus, einem Mann, der in Symbolen spricht und der es nicht für notwendig hielt, in seinen Wahlkampf mehr als 4.000 Dollar zu investieren. Da er jede Allianz aus Prinzip ablehnte, konnte er am 1. Januar ohne politische Schulden sein Amt als Bürgermeister antreten.

Wer ist dieser Antanas Mockus, der über Nacht aus dem Dunstkreis des akademischen Lebens herausgetreten ist und sich plötzlich in einen Hoffnungsträger für die Bogotaner verwandelt hat? Der breiten Öffentlichkeit ist er vor allem durch seine spektakulären Eskapaden bekannt. So erschien er als Rektor der Nationaluniversität zu einer Senatsdebatte mit einem rosa Spielzeugschwert, um den Etat der Hochschule zu verteidigen. Wenig später mußte er zurücktreten, weil er während einer hitzigen Debatte mit Künstlern den nackten Hintern gezeigt hatte, um sich Gehör zu verschaffen. In den USA, wo Bigotterie und Moralapostel schon manchen politisch qualifizierten Kandidaten zu Fall gebracht haben, wäre Mockus kläglich gescheitert. Während des Wahlkampfes gab er nämlich zu, vor Jahren Marihuana geraucht und einmal einen Polizisten bestochen zu haben. Bei öffentlichen Auftritten bricht er vor Emotion häufig in Tränen aus. Vielleicht ist es diese entwaffnende Offenheit, die den Sohn litauischer Einwanderer zum Symbol für absolute Unbestechlichkeit und Integrität gemacht hat.

Carlos Augusto Hernández, der vor drei Jahren vom damaligen Rektor Mockus zum akademischen Vizerektor der Nationaluniversität berufen wurde, kennt jede Menge Anekdoten über die sprichwörtliche Ehrlichkeit des schrulligen Professors: „Antanas war besonders penibel, was Verantwortung und Verwaltung der Gelder betraf. Lieber kaufte er sein eigenes Briefpapier, als daß er das der Universität für Zwecke verwendete, die nichts mit seiner Funktion zu tun hatten. Dasselbe galt für den Gebrauch des Fotokopiergerätes.“

Diese Ehrlichkeit und Korrektheit erwartet Antanas Mockus auch von seinen Mitarbeitern. Die meisten kommen wie er von der Universität, sind aber keine weltfremden Akademiker, sondern hatten in verschiedenen Studien und Feldforschungen mit den barrios zu tun, den armen Stadtvierteln, wo Gewalt und Entfremdung zu Hause sind. Daß seine Mitarbeiter nicht erst jetzt aus dem Elfenbeinturm der Universität in die Gosse steigen müssen, ist nicht zuletzt ein Ergebnis der von Mockus vorangetriebenen Lehrplanreform, mit der das Niveau der Universität nachhaltig verbessert wurde. Mit der obligatorischen Verankerung eines interdisziplinären Ansatzes versuchte er, der Produktion von Fachidioten vorzubeugen und den Studenten zum Verständnis fachübergreifender Zusammenhänge zu verhelfen.

Einen „neoliberalen Anarchisten“ nannte eine lokale Zeitschrift den Überraschungssieger bei den Kommunalwahlen. Mockus selbst verweigert sich der Einordnung in eine akademische Schublade ebenso wie der nach traditionellen Rechts-Links-Koordinaten. Daß er sich als Rektor den Ruf eines Neoliberalen erwarb, liegt daran, daß er die auf ein symbolisches Niveau gesunkenen Immatrikulationsgebühren erhöhte, um den ausgemergelten Etat der Alma mater für Computer und Lehrmaterial zu erhöhen. Die nachweislich Armen und Angehörige von ethnischen Minderheiten dürfen weiterhin gratis auf die Uni. Aber wer es sich leisten kann, der wird nach einem gestaffelten Tarif zur Kasse gebeten.

Mockus hat den Begriff des „kulturellen Amphibiums“ als erstrebenswerte Daseinsform des Menschen geprägt: ein Wesen, das in verschiedenen Kulturkreisen gleichermaßen zu Hause ist. Auf die konkrete Situation bezogen, wäre das ein Politiker, dem es keine Mühe macht, von der Budgetdebatte im Rathaus zu einem Volksfest auf dem Dorf zu pendeln, ohne sich deplaziert zu fühlen. Antanas habe dieses Ziel für sich noch nicht verwirklicht, meint Martha Stella Castaño, die den neuen Bürgermeister in einer jahrelangen Lebensgemeinschaft von allen Seiten kennengelernt hat. Bei Wahlversammlungen in ländlichen Bezirken sei es ihm zwar gelungen, mit den Leuten zu kommunizieren, aber: „Er kann es sich nicht abgewöhnen, in Symbolen zu sprechen. Und das ist für die meisten Menschen doch schwer verständlich.“ Kein kulturelles Amphibium, aber, so die Ex-Freundin, „ein Künstler, ein hochintelligenter Mensch, der in so unterschiedlichen Gebieten zu Hause ist wie in der Mathematik, der Philosophie und der Kunst. All diese Fähigkeiten haben ihm ein ganz besonderes Weltverständnis verschafft.“

Antanas Mockus, Jahrgang 1952, wuchs in einem Museum auf. In ein solches hatte Mutter Nojoli, eine passionierte Bildhauerin, das Haus der Familie im Westen von Bogotá verwandelt. Alles ist voll mit Gemälden, Plastiken und wertvollen Teppichen. „Jeder Gegenstand hat seinen Platz und seine ganz bestimmte Bedeutung“, erzählt Martha Stella ehrfürchtig. Dort lebt Antanas immer noch mit seiner Mutter. Sein Vater kam bei einem Flugzeugunglück ums Leben, als er gerade 14 war.

Zwar hat Mockus die Heimat seiner Eltern nur ein einziges Mal besucht, doch spricht er fließend Litauisch. Und noch heute pflegt er gelegentliche Kontakte zur kleinen litauischen Gemeinde in Kolumbien. Seine Ideen aber sind nicht von seiner Herkunft geprägt. Mockus, der mit seinem blonden Kinn- und Backenbart aussieht wie ein zu dünn geratener Wikinger, fühlt sich absolut als Kolumbianer. Und er bietet Lösungen für die konkreten Probleme an, die er aus dem Alltag der Hauptstadt kennt: die ständige Bedrohung von Leben und Eigentum, das Verkehrschaos, die immer unerträglicher werdende Luftverschmutzung, das unkontrollierte Wachstum der Stadt, die ebenso korrupte wie ineffiziente Verwaltung, der verheerende Zustand des Telefonnetzes...

Mobilere Polizeipatrouillen statt mehr Polizisten, dezentrale Verwaltung statt Schaffung neuer Instanzen, Mitarbeit der Bevölkerung an der Bewältigung kommunaler Probleme wie der Müllbeseitigung: das sind einige der Vorschläge, die in den kommenden Monaten umgesetzt werden sollen.

Das Kernstück der neuen Strategie ist jedoch die Erziehung der Bürger und Bürgerinnen auf allen Ebenen. Fabio Chaparro ist ein Multitalent und vielseitig interessierter Mensch wie Mockus selbst. Der Vizerektor, Physikprofessor und begeisterte Leser von Lyrik ist in der neuen Stadtverwaltung für Energiefragen zuständig. Er tritt dafür ein, mit der Erziehungsarbeit in den Armenvierteln zu beginnen. Die Leute sollen motiviert werden, ihre unmittelbare Umgebung kennenzulernen und zu verstehen: „Sie sollen die Geschichte ihres Stadtviertels erkunden, herausfinden, wie sich die Landschaft verändert hat und welche Art von Familien dorthin ziehen.“ Oder die Kinder sollen aufgefordert werden, die öffentlichen Dienstleistungen zu recherchieren, „wo das Wasser herkommt, das sie trinken, wo es verschmutzt wird, wo es gefiltert wird, durch welche Rohre es läuft, wieviel sie zu Hause verbrauchen und was sie dafür zahlen“.

Der mündige Bürger soll helfen, die Verwaltung transparenter zu machen, Mißbräuche erkennen und die Zivilcourage aufbringen, sie anzuzeigen. Und die öffentlichen Angestellten werden lernen müssen, daß die Sicherheit ihres Arbeitsplatzes nicht mehr von Parteizugehörigkeit und Beziehungen abhängt, sondern von Unbestechlichkeit und Leistung.

Es gibt aber noch andere Gründe, auf Erziehung zu setzen. Jorge Child, ein prominenter Historiker, Staatstheoretiker und Zeitungskolumnist, der über eine unabhängige Liste in den Stadtrat gewählt wurde, sieht die soziokulturelle Provenienz der Bogotaner als eines der Hauptprobleme. Das Wachstum der Hauptstadt wurde jahrzehntelang von Flüchtlingen genährt, die der Gewalt in ihrer Heimatregion entkommen wollten. Sie wollten dem blindwütigen Morden zwischen Liberalen und Konservativen während der 40er und 50er Jahre, der Brutalität der Armee, der Indoktrinierung durch die kommunistische Guerilla, die den Unterschied zwischen mein und dein verwischte, und dem Terror paramilitärischer Gruppen den Rücken kehren. „Diese Leute haben die alten Gewohnheiten nicht ablegen können und greifen bei jeder Gelegenheit zu gewalttätigen Mitteln: bei der sogenannten Privatjustiz genauso wie beim Broterwerb. Sie müssen erzogen werden, sie brauchen Unterricht im Fach Großstadt. Diese Leute kommen, ohne je eine Verkehrsampel gesehen zu haben, denn dort, wo sie herkommen, gibt es so was nicht. Sie glauben also, das ist eine hübsche Laterne und starren sie fasziniert an.“ Jorge Child und weitere 22 der 35 Gemeinderäte haben sich zusammengetan, um die Plattform des neuen Bürgermeisters, der über keine Hausmacht verfügt, zu unterstützen. Denn auch sie sind überzeugt, daß die Chance, die sich mit dem Antritt von Mockus eröffnet, wahrgenommen werden muß. Wenn es schiefgeht, wenn die Reformpläne am Kleingeist der Politiker und Beamten scheitern, dann wäre ganz Lateinamerika um eine Hoffnung ärmer.