Wie verkauft sich ein Wissenschaftler?

In der russischen Stadt Akademgorodok arbeitete ein Drittel der Bevölkerung in der Wissenschaft / Heute machen die wirtschaftlichen Reformen den Einwohnern zu schaffen  ■ Aus Akademgorodok Ulrich Heyden

In Akademgorodok herrscht eine Ruhe, von der man in anderen russischen Großstädten nur träumen kann. Unter verschneiten Birken, Fichten und Kiefern gehen die Menschen einkaufen oder einfach nur spazieren. Die zentralen Einrichtungen der Stadt sind von wissenschaftlicher Natur: Das Haus des Wissenschaftlers und die Sibirische Abteilung der Russischen Akademie der Wissenschaft. Sie liegen an der Straße des Meeres, die aber nicht ins Meer, sondern in einen künstlichen Stausee mündet. Einer der längsten Flüsse des Kontinents, der Ob, wurde hier gestaut. Unerwartet von der Wissenschaft hat dies das Klima der Stadt entscheidend verändert. Heute sind es die wirtschaftlichen Schwierigkeiten, die die Atmosphäre in der Stadt prägen.

Akademgorodok liegt im Süden Sibiriens, nicht weit von Nowosibirsk. Das wissenschaftliche Zentrum ist in seiner Art einmalig für die ehemalige Sowjetunion. Ein Drittel der 50.000 Einwohner war in der Wissenschaft tätig. Das Verzeichnis der über 40 verschiedenen Institute liest sich wie der Wegweiser durch ein Großlabor für eine neue Welt. Es gibt nicht nur die Einrichtungen für Gentechnik, Mathematik und Kernphysik, sondern auch die Institute Bergbau und Industrieproduktion sowie solche für Geschichte, Philologie und Philosophie.

Doch für Grundlagenforschung hat Rußland heute kein Geld mehr. Die Zuschüße für die Akademie wurden um die Hälfte gekürzt, und so erhalten nur noch 10 Prozent der Mitarbeiter am Institut für Mathematik ein Gehalt. Professoren, die früher mehrmals im Jahr auf Dienstreisen gingen, kommen heute aus Akademgorodok nicht mehr heraus. Wassilij Areschenko, Mitglied im Präsidium der Akademie beklagt, daß die Wissenschaftler in Rußland zur Zeit eine der am schlechtesten bezahlten Berufsgruppen sind. Besser würden Bergleute und Arbeiter in der Erdöl- und Gasförderung verdienen. „Der Direktor eines Instituts erhält heute 240.000 Rubel.“ Umgerechnet sind das 120 DM.

Areschenko räumt aber auch ein, daß die Mitarbeiter der Akademie früher zu den besonders gut versorgten Gruppen der Sowjetgesellschaft gehörten. Vor 10 Jahren bekamen die Institutsdirektoren 600 Rubel. Das war damals ein Spitzengehalt. Lehrer, Ingenieure und Ärzte in Moskau verdienten nur 130 Rubel. Auch bei der Versorgung mit Lebensmitteln waren die Menschen im Akademgorodok privilegiert. Heute gibt es in den Lebensmittelgeschäften der Stadt nicht mehr zu kaufen als in anderen Städten auch.

Der Bau von Akademgorodok begann 1957 unter Nikita Chruschtschow, dem damaligen Ersten Sekretär der KPdSU. Ziel der KPdSU war es, möglichst schnell die Naturschätze Sibiriens zu erschließen und zur „allseitigen Entwicklung der Produktivkräfte dieser Region“ beizutragen.

Der 44jährige Biologe Jurij kam als 11jähriger in den gerade gegründeten Ort. Er und seine Eltern, beide Physiker, stammen eigentlich aus Leningrad. Die Eltern gerieten im Zweiten Weltkrieg ins Visier des sowjetischen Geheimdienstes NKWD und verloren immer wieder ihre Arbeitsstelle. Erst eine Anstellung in neugegründeten Akademgorodok machte dem ständigen Wohnortwechsel ein Ende.

Wenn Jurij von den 60er Jahren erzählt, gerät er ins Schwärmen. „Hier gab es früher eine besondere Atmosphäre, die Wissenschaftler fühlten sich als Elite und führten ein sehr intensives Leben. Auf den schwer zu überwachenden Segelbooten kam es zu politischen Diskussionen“. 1965 wurde eine Kunstschule und das Café Integral gegründet. Als dann jedoch 1967 einige Wissenschaftler eine Protesterklärung wegen der Gerichtsverhandlung gegen den Schriftsteller Daniel Sinjawski vefaßten, besuchte eine Parteikommission die Stadt, und die beiden Einrichtungen mußten geschlossen werden.

Auch in den Jahren danach zeichnete sich Akademgorodok durch seinen „kritischen Geist“ aus. Beim Einmarsch sowjetischer Truppen in die Tschechoslowakei wurden an die Häuser nachts Parolen gemalt. Proteste gab es auch, als Andrej Sacharow verbannt wurde. Wandparolen tauchten wiederum auf, als Jelzin 1987 das Politbüro verlassen mußte.

Solche Parolen sind heute nicht mehr zu sehen. Statt dessen gibt es zu besonderen Anlässen Versammlungen im Haus des Wissenschaftlers. Das letzte große Ereignis war der Auftritt von Alexander Solschenizyn. Der Mann, der sich selbst als das Gewissen Rußlands sieht, diskutierte in Akademgorodok mit den sich in ihrer Existenz bedroht fühlenden Wissenschaftlern.

In den Instituten bleiben heute fast nur noch Enthusiasten, die bereit sind, nahezu umsonst zu arbeiten. Der Biologe Jurij verdient 49.000 Rubel im Monat. Dazu kommt noch ein Zuschlag von 23 Prozent, weil das Elektronenmikrosokop, an dem er arbeitet, radioaktive Strahlung abgibt. Um seine beiden Kinder zu ernähren, hat Jurij noch einen zweiten Job, eine Nachtschicht, übernommen. Das Geld jedoch reicht immer noch nicht.

Viele Wissenschaftler bemühen sich um eine Arbeitsstelle in den neuentstehenden Banken, Börsen und Joint-ventures im nahe gelegenen Nowosibirsk. Wjatscheslaw Seliwerstow, der stellvertretende Direktor des Ökonomischen Instituts, sieht diese Entwicklung mit gemischten Gefühlen. „Für die Wirtschaft ist das sehr gut, weil dort jetzt qualifizierte Leute arbeiten. Für uns ist das sehr schlecht, weil wir selbst qualifizierte Wissenschaftler verlieren.“

Als alternative Beschäftigungsmöglichkeit bleibt für die Wissenschaftler außerdem die Zusammenarbeit mit Universitäten und Betrieben des ehemals feindlichen Blocks. Eine intensive Kooperation gibt es inzwischen mit der wissenschaftlichen Abteilung der Nato. Ein Zusammenschluß zu wirtschaftlich selbstständigen Kooperativen wird dagegen von vielen abgelehnt. Akademiemitglied Areschenko sagt: „Wir sind eine wissenschaftliche Akademie, und wir beschäftigen uns mit Grundlagenforschung. Ingenieure können vielleicht eine Kooperative bilden, Grundlagenforscher nicht.“

Für Areschenko ist es daher keine Frage, daß die wissenschaftlichen Einrichtungen in ihrem bisherigen Umfang erhalten bleiben müssen. „Wenn jetzt die einzelnen wissenschaftlichen Schulen zerfallen, braucht man 20 oder 30 Jahre um sie wiederaufzubauen. Kein normaler Staat kann ohne Wissenschaft existieren. Darum ist dieser Zerfall von Akademgorodok ein staatszersetzender Akt.“