Kein Reich von dieser Welt

■ Mit „Barroco“ startet das Kino 46 heute seine neue Reihe über Literatur und Film aus Lateinamerika

Das Kino 46 beginnt heute mit einer Reihe lateinamerikanischer Literaturverfilmungen. Bis Juni wird jeden Monat ein Film aus und über den Kontinent gezeigt werden. Die nur selten in Deutschland gezeigten Filme werden begleitet von Lesungen oder einem kleinen Vortrag. Einzige Ausnahme ist der mit Bedacht gewählte Film Das Geisterhaus im Mai. Die VeranstalterInnen wollen nach dem Film eine kritsche Diskussion über den Hollywood-Schinken anzetteln.

Den Auftakt macht heute um 20.30 Uhr Barroco von Paul Leduc (Spanien/Kuba/Mexico, 1989). Alejo Carpentier hätte die Verfilmung seiner Novelle Das Barock–Konzert gefallen. Keine Worte stören die Musik aus vier Jahrhunderten und drei Kontinenten. Leider kann der kubanische Schriftsteller und Musilkritiker den Film nicht mehr von diesem Reiche aus betrachten: Der Meister der kubanischen Avantgarde starb 1980.

Leduc hat den Stoff grandios umgesetzt. Nur mit Schauspiel, Tanz und Musik führt er die ZuschauerInnen durch 500 Jahre Geschichte. Die Zeiträume verwischen, Nebenschauplätze der Realgeschichte zeigen das Drama, das der weiße Mensch seit Kolumbus Irrfahrt ausgelöst hat. Die Methoden der spanischen Besatzer auf Haiti, die den Sklavenaufstand brutal niederschlagen, werden im spanischen Bürgerkrieg von den Faschisten wiederbelebt.

Aber der Mexikaner Paul Leduc reist nicht nur durch die Zeiten, er springt auch zwischen den Welten hin und her: Von der Nashornjagd im afrikanischen Busch geht es zu den mittelamerikanischen Ureinwohnern. Sie treffen im Wald auf Christoph Kolumbus (Francisco Rabal in einer von vier Rollen) und seinen Troß. Mit Zaubertricks und Rasseln halten die Spanier die damals noch „guten Wilden“ in ihrem Bann, gefügig stehen sie den Usurpatoren zur Verfügung.

Leduc hat den real maravilloso, „die wunderbare Wirklichkeit“ Lateinamerikas, in zwei Stunden berauschendes Kino gepackt. Die Handlung ist zugegebenermaßen chaotisch, erschließt sich vielleicht nur dem, der das Buch kennt. Alejo Carpentier hatte Antonio Vivaldis Oper Montezuma als Grundlage für Barroco genommen. In dem Werk verführt der Autor seine LeserInnen zu einer Reise. Sie folgen einem reichen kreolischen Mexikaner – als Montezuma verkleidet – und seinem schwarzen Diener nach Europa, wo sie Vivaldi, Scarlatti und Händel kennenlernen. Gemeinsam besuchen sie ein Konzert, auf dem ihnen 70 Musikerinnen die Geschichte der Musik vom Barock bis zur schwarzen Musik Amerikas vorspielen. Im Spiegel der EuropäerInnen sehen die Weitgereisten ihre eigene Geschichte. „Manchmal muß man sich von den Dingen entfernen, ein Meer dazwischen legen, um die Dinge aus der Nähe zu sehen“, sagt der Criollo in Carpentiers Buch.

Paul Leduc, der 1985 bereits das Leben der mexikanischen Malerin Frida Kahlo bildreich verfilmt hat, setzt in Barroco nur auf die Kraft der Bilder und der Musik. Von Haydn über die Lieder Schumanns bis zu den getragenen Gesängen der Grupo Andalusi de Tanger und den heißen Salsa-Rhythmen einer kubanischen Kombo hat Leduc alle Register gezogen. Barock und üppig ist auch die Ausstattung des Films, die Hunderte von Filmsequenzen wirken wie auf die Leinwand gemalt. Leduc ordnet seine chaotische und träumerische Komposition durch die vier „Tempi“ Andante, Contredanse, Rondo und Finale.

In allen Werken Carpentiers geht es um die Freiheit des Menschen. Seine Eltern waren erst 1902 – zwei Jahre vor seiner Geburt – aus Frankreich und Rußland nach Kuba ausgewandert. Carpentier verschlingt als Jugendlicher die Bücher Zolas, Hugos und Pio Barojas. Er studiert in Havanna und Paris Literatur- und Musikgeschichte und erkennt als einer der ersten die Vielschichtigkeit der afrokubanischen Musik und Kultur. Mehrmals muß Carpentier aus politischen Gründen seine jeweilige Heimat in Havanna und Paris verlassen und vor den Rechten fliehen. Er lebt lange Zeit in Mexiko und freundet sich mit Diego de Rivera an. Eine wirkliche politische Heimat findet Carpentier erst im nachrevolutionären Kuba. Ulrike Fokken

Barroco, Paul Leduc, 112 Minuten; Darst.: Francisco Rabal, Angela Molina, Ernesto Gómez Cruz u.a. Heute abend um 20.30 Uhr im Kino 46, Waller Heerstraße.