Ästhetisch aufgepoppte Häßlichkeit

■ Wer Avantgarde-Lyrik mag und Schultheiss-Bier trinkt, sollte den „Sklaven“ lesen

Zu Beginn der Veranstaltung, die am Dienstag abend im Café Clara stattfand, fühlte man sich zuerst an einen Otto-Film erinnert, und zwar an jene Szene, wo dieser versucht, alten Leutchen irgendwelche Klamotten aufzuschwatzen. Und siehe da, die Anwesenden waren genauso mausgrau gewandet. Sie alle waren gekommen, um der Vorstellung einer Zeitschrift beizuwohnen, die den Titel Sklaven trägt.

Moderator Stefan Ret wies darauf hin, daß schon Franz Jung 1927 eine Zeitschrift gleichen Namens plante. Mit dem Charme östlicher Langsamkeit versehen, wurde dieses Projekt nun im Juni 1994 in die Tat umgesetzt, so daß bereits die siebte Nummer von Sklaven vorliegt. Stefan Döring trug einen Text Jungs vor, der den Titel „Für die Wiedereinführung der Sklaverei“ trug und wahrscheinlich als Provokation gedacht war, auch wenn niemand daran dachte, sich provoziert zu fühlen. Mit Abgestandenem ging es weiter: Triumph und Tragik der DDR-Opposition, in mehreren Folgen brav zu Papier gebracht von Klaus Wolfram. Tenor: Die Idee war gut, nur die Führer waren schlecht. Besonders gerügt wurde Wolfgang Templin, der damals die Forderungen der Ausreisewilligen nicht von denen der Opposition getrennt sehen wollte. Das aber war falsch, dozierte Wolfram, der ansonsten diejenigen, die sich weder von Partei noch Stasi, noch von mürrischen Oppositionellen das Leben versauen lassen wollten, im besten ND-Stil als „Ausreißer“ titulierte. Normalerweise werden Worte wie diese nur bei Kinderspielen verwendet, und auf dem entsprechenden Niveau von Blindekuh-Spielen, Petzen und Schmollen scheint sich die kritische Ost-Szene noch heute zu befinden. Dann trat der Dichter Bert Papenfuß auf, der kein „Ausreißer“ ist, sondern nach eigenem Bekunden seinen Kosmos „im Prenzlauer Berg, immer im Kreis, Rykestraße, Dunckerstraße, Kollwitzplatz“ gefunden hat. Auch seine neuen Gedichte wirkten wieder so, als seien sie eben in einem „Stammel dich frei“-Workshop für besonders sprachresistente Teutonen verfertigt worden. Besonders ein Kehrreim blieb wegen seiner Formvollendung im Gedächtnis: „Wir sind die Chatten / mit den langen Latten“. Chatten sind Angehörige eines westgermanischen Volksstamms, und wir kamen darüber erneut ins Grübeln, wie falsch es von den zivilisierten Römern war, sich einfach aus dem Teutoburger Wald vertreiben zu lassen.

Nach dieser Chatten-Lyrik gab es Wüstenprosa von Wolfgang Kempe zu bestaunen, in der poetische Warnungen und Zeitungszitate ziemlich wild herumwirbelten. Danach las die Lyrikerin Annett Gröschner kurze Sätze über 49 Frauen vor, die damit beschäftigt waren, aus dem Fenster zu springen, ihre Männer (die Chatten mit den langen Latten?) umzubringen oder Kuchen zu essen, in dem sich Scherben befinden.

Einigermaßen verwirrt angesichts dieser Blut-und-Hoden- Mixtur hörten wir mit Vergnügen Helmut Höges schräge Reportage über das V2-Dorf Peenemünde, in der er Fakten so ironisch zusammenstellte, daß sie ein Kaleidoskop voller Absurditäten ergaben. Allein wegen Höge sollte man sich also die Sklaven monatlich kaufen. Sonst aber sei das Blatt eher Leuten empfohlen, die Schultheiss- Bier und deutsche Avantgarde-Lyrik mögen, die Berlin für eine interessante Stadt halten und den Anblick von Kreuz- und Prenzelberger Hinterhöfen für ihr seelisches Gleichgewicht benötigen.

Wir, seit jeher etwas mäkelig, was ästhetisch aufgepoppte Häßlichkeit betrifft, verzichten aber schon aus lauter Blasiertheit auf allzu schrillen Spott und schreiben ganz unpolemisch: Ja, Sklaven ist eine neue Zeitschrift, und sie kostet 5 Mark – auch für unsere nichtchattischen Mitbürger, sofern sie sich für das Brauchtum hiesiger Volksstämme interessieren sollten. Marko Martin