: Zum Beispiel 1969
■ Nachgeschaut: Wozu brauchen wir eine "Mediathek"? (Dienstag, 22.15 Uhr, B 1)
Während der Student der mittelalterlichen Geschichte zum hundertsten Mal die einzige ihm für seine Seminararbeit zur Verfügung stehende Urkunde streichelt, hat der 1969 geborene Student, der sich den Ereignissen in seinem Geburtsjahr zuwendet, das entgegengesetzte Problem. Seine Eltern haben ihn bereits im zarten Alter mit den heroischen Ereignissen der Jugend- und Studentenrevolte zugelabert („Generationengedächtnis“), und in der Schule wie vor der Glotze wurde er zum Objekt der im Jahrestag-Rhythmus ablaufenden Rückblickskultur (artifizielles Gedächtnis). Wenn er etwas über den Alltag wissen will, spaziert er durch die zeitgenössischen Museen, die sowieso immer mehr Ramschläden gleichen. Und wenn ihn das Lebensgefühl der Epoche interessiert, gibt es da noch die Möglichkeit, zum Buch zu greifen. Zuviel des Guten. Brauchen wie also unbedingt eine historische Videothek, wo uns durch Knopfdruck zu einem beliebigen Stichwort alles vermittelt wird, was die Glotze – zum Beispiel 1969 – für aufzeichnungswürdig befunden hat? Peter Paul Kubitz und Marion Schmidt sind offensichtlich dieser Meinung. Was sie in ihrem Film „Zum Beispiel 1969“ als Test für eine „Deutsche Mediathek“ anboten, ist allerdings nicht gerade geeignet, dem Projekt Liebhaber zu gewinnen.
Das Strickmuster ihres Beitrags ist allzu offensichtlich: die politischen Ereignisse auf der „Königsebene“ werden auf der „Betroffenenebene“ reflektiert. Also nicht die Mondlandung der Amerikaner, sondern die Reaktion darauf in einem kleinen westdeutschen Nest, also nicht der Machtwechsel Kiesinger/Brandt, sondern der Austausch der Chauffeure. Es wäre nun müßig, darüber zu richten, daß die BRD des Jahres 1969 in dem Beitrag als Spießerhölle gemalt wird, daß wichtigste gesellschaftliche Ereignisse wie die Septemberstreiks nicht erwähnt, daß die gestanzten Selbstverpflichtungen Junger Pioniere mit der Wirklichkeit der DDR verwechselt werden etc. Das Prinzip ist's, was an dieser geschmäcklerischen Präsentation verfehlt ist.
Denn was an einem Fernseh- Museum interessieren könnte, erschließt sich aus den technischen Möglichkeiten des Mediums. Es geht um Verknüpfung und Vernetzung, weshalb ein auf die BRD und die DDR begrenztes Archiv vollkommen sinnlos ist. Wie anders als im interkulturellen Vergleich kann ich – um im Beispiel der 60er Jahre zu bleiben – Phänomene wie die Pop-Kultur, den kurzlebigen Siegeszug der Atomenergie oder die Migration der Arbeitskräfte aus dem Süden Europas in den industrialisierten Norden erschließen?
Das Projekt steht und fällt mit der Möglichkeit zu Stichwortkombinationen, damit, daß wir scheinbar völlig heterogene Ereignisse aufeinandertreffen lassen. Daß wir uns auf Spurensuche machen, uns einen Datenpfad bahnen. Wie in einer Bibliothek klassischen Zuschnitts, wo wir die Regale entlangstreifen, uns hier und dort festlesen, von der Fußnote in einem zu einer Reproduktion in einem anderen Werk hüpfen, bis es blitzt und eine Idee sich festsetzt.
Mit einem Wort: es geht ums Spielen. Lange vor dem Computer-Zeitalter hat Michel Butor einen „Faust“ geschrieben, dessen Gestalt die Zuschauer allabendlich unter über tausend Varianten vermittels Beifalls oder Pfiffen festlegen konnten. Wollen uns Peter Paul Kubitz und Marion Schmidt allen Ernstes zumuten, daß wir ihr Schuhgeschäft betreten und uns für unsere Spaziergänge durch die Geschichte diese drückenden, engen Gehwerkzeuge verpassen lassen? Christian Semler
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