Es sind Narzißten in den Kisten

Zwischen libidinösen Alltagsinszenierungen und ephemerem Bildungsgut im Reisekoffer: „Worlds in a Box“, Kistenkunst in der Londoner Whitechapel Art Gallery  ■ Von Martin Zeyn und Claudia Büttner

Seit langem versucht die Kunst alle Rahmen zu sprengen, will ihre Themen ins Leben ausweiten und angestammte Plätze verlassen. Allover Painting, Shaped Canvas, Land Art sind einige Losungsworte für die Nachkriegskunst. Die Londoner Whitechapel Art Gallery präsentiert statt dessen all jene, die gerade den Rahmen suchen: Kunst, die ihre eigenen Bedingungen reflektiert, indem sie sich aufs begrenzte Feld zurückzieht. Die kunstvoll gestaltete Kiste als Kleinstgalerie, als Bühne, Peep-Show, Innenwelt, Setzkasten, Baukasten und als Kiste, deren Schlüssel allein sie bei Robert Morris zuletzt beherbergt: Es gilt, die Kiste als Phänomen in der Kunst zu entdecken.

In der Ausstellung mit etwa 120 historischen Kisten, Kästen, Schachteln, Pyramiden wird auf eine strenge chronologische Abfolge verzichtet; es scheint, als würde den Kisten zugetraut, daß ihr Reiz und nicht selten ihr Witz für sich sprechen. Mit ihrem Interesse an der Vermischung von Alltagswelt, deren alogisch-libidinöser Inszenierung verwandelten SurrealistInnen wie Meret Oppenheim und Man Ray die Kiste zum obskuren Objekt.

Einen Sonderfall stellen Duchamps Schachteln dar, der mit ihnen auch eine selbstironische Relativitätstheorie der Kiste entwickelte. „The green box“ enthält faksimilierte Notizen zur Entstehung des „Großen Glases“; „Boîtes en Valise“ dokumentiert die zentralen Arbeiten von Duchamp mit Fotos, Schriftstücken und Multiples. Die Dokumentation als Werk kolportiert den Bewahrungsgeist in der Kunstgeschichte ebenso wie den Sammler-Fetischismus am Original. Hier ist das Objekt der Begierde nicht obskur, sondern intellegibel. Nicht der Stammvater, aber einer, der sich der Kiste verschrieben und mit seinem umfänglichen Oeuvre die Ausstellung angeregt hat, war der US-Amerikaner Joseph Cornell. Seine Arbeiten, halb Setzkasten, halb Assemblagen, sind surreale Kombinationen oder romantisch verspielte Sammelsurien. Für die Ausstellung wurden Arbeiten mit nur wenigen Komponenten ausgesucht, so daß das dekorative Moment seiner Arbeit hinter unerwartet diffizil montierte Setzungen zurücktritt. Neben Cornell schufen zeitgleich zwei weitere US-AmerikanerInnen, Georges Hugnet und Eileen Agar, poetische Kinderwelten. Bereits im Nouveau Réalisme und der Pop-art wird das surreal drapierte Objet trouvé zunehmend vom Industrieprodukt ersetzt, dem jeder tiefere Bildgrund abgeht. Die Arbeit mit der Kiste gerät zur Miniaturausgabe des eigentlichen Werkes. Eingequetschte Massen bei Arman oder Mini-Repliken witziger Projektideen bei Claes Oldenburg scheinen ebenso bekannt wie die poetischen Geschichten von Rebecca Horn und der Kubus von Sol LeWitt. Die Arbeit von Daniel Spoerri ist nicht einmal mehr zu schließen vor lauter herausquellendem Zeug. Eine faszinierende Entdeckung unter den Kistenkünstlern ist der Amerikaner Lucas Samaras. Neben stoffbezogenen, nagelbespickten Pretiosen ist eines seiner Raumenvironments „The Mirrored Room“, eine innen und außen verspiegelte Kiste, als Aufenthalt und Selbstbildnis des Künstler-Narziß zu sehen.

Das Faszinosum der Kiste wird auch im skurillen Chaos des Fluxus offenkundig: der inszenierte Gegensatz zwischen der Ordnung der Kiste und deren mutwilliger Destruktion. Hier erlebt die Kiste ihre Hochzeit, wenn auch nicht in den prachtvollsten Exemplaren. Ben Vautiers Arbeit „Total Art Box“, eine bedruckte Streichholzschachtel, markiert dabei das Ende der Kunstkiste. Der aufgedruckte Text empfiehlt das Anzünden jedes Kunstwerks, wobei das letzte Streichholz für eben diese Schachtel benutzt werden soll. Zerstörung als Befreiung vom Kunstzwang. Nach diesem bösen Scherz schweift der Blick nur noch nebensächlich über die nachfolgenden Arbeiten.

Was von den Kisten heute noch bleibt, zeigen Patrick Raynauds Arbeiten, der Malerei des 19. Jahrhunderts als Bildungsgut per Cyberchrome in edle Reisekoffer packt. Eine mittlerweile abgeschliffene Geste, die gut zu den Bemühungen in den Achtzigern paßt, eine Preziosenkunst im Anschluß an Cornell zu produzieren: Kisten für den Kunsthandel.

Die Ausstellung „Worlds in a Box“ ist noch bis zum 12. Februar in der Whitechapel Art Gallery in London zu sehen.