: Begleitung statt Kritik
■ Der Beirat und die Unzufriedenheit der freien Szene / Ein Gespräch mit Alfred Bouß, dem Geschäftsführer der Tanz Initiative
Die Tanz Initiative ist die Interessenvertretung der freien Tanzgruppen. Darüber hinaus berät sie, hilft bei der Suche nach Probenräumen und tritt gelegentlich selbst als Veranstalterin in Erscheinung.
taz: Im Dezember hat der Beirat für freie Gruppen über die Förderung der freien Theater- und Tanzgruppen für 1995 entschieden. Das war noch in keinem Jahr Anlaß zum Jubel – das Geld war schon immer knapp bemessen. Dieses Jahr wurde der Etat für die Projektförderung um rund 10 Prozent gekürzt. Das verbliebene Geld wurde auf insgesamt weniger Gruppen verteilt, die zum Teil höher gefördert werden. Im Tanz bekommen in diesem Jahr nur noch sechs Kompanien Geld. Im vergangenen Jahr waren es zehn. Bist du mit den Entscheidungen des Beirats einverstanden?
Alfred Bouß: In der taz war ja schon nachzulesen, daß der Beirat „endlich“ von dem viel kritisierten Gießkannenprinzip abgerückt sei. Damit unterstellt man dem Beirat allerdings ein Konzept, das dann zu dieser Entscheidung geführt hätte. Meiner Ansicht nach hat dieser Beirat kein Konzept. Sicher sind die Tanzgruppen, die jetzt gefördert werden, zu Recht in der Förderung; aber mit gleichem Recht könnten einige andere mit auf dieser Liste stehen. Die Entscheidungsfindung ist immer wieder zu willkürlich und von Zufällen abhängig.
Hätte man den einzelnen Gruppen weniger geben sollen, um mehr Gruppen fördern zu können?
Ich bin natürlich der Meinung, das man die Kalkulationen der Gruppen soweit wie möglich ernst nimmt. In den vergangenen Jahren wurden die von den Gruppen beantragten Beträge, also die Summen, die sie für ihre Projekte veranschlagten, nahezu wahllos heruntergekürzt. Das ist in keinster Weise zu vertreten.
Aber der Beirat hatte keine andere Wahl. Mehr Geld stand ihm einfach nicht zur Verfügung.
So einfach ist das auch wieder nicht. Ein ärgerliches Beispiel für die problematische Vorgehensweise des Beirats ist die Gruppe Detektor, die wegen eines Vertragsbruchs des Tacheles ihre Produktion nicht wie geplant im vergangenen Jahr zeigen konnte. Die Produktion war fertig, als das Tacheles kurzfristig die geplanten Spieltermine mit fadenscheinigen Gründen abgesagt hatte. Die Gruppe ist aus der Förderung herausgefallen, weil sie die für das vergangene Jahr geförderte Produktion aus den erwähnten Gründen nicht hat zeigen können. Ein verantwortungsbewußter Beirat hätte sich anders mit dem Problem auseinandersetzen müssen.
Der Beirat besteht vor allem aus Theater- und Tanzkritikern, die ihrer Beirats-Tätigkeit ehrenamtlich nachgehen. Verlangst du nicht zuviel Engagement?
Diese ehrenamtliche Tätigkeit ist ein großes Problem, und es ist sicher eine frustrierende Arbeit, sich drei- bis viermal die Woche Veranstaltungen anschauen zu müssen, die sicher nicht in jedem Fall zu den besten gehören. Vor drei Jahren, als es um die neuen Richtlinien ging, hat der Beirat noch sehr gut gearbeitet. Er hat mit den Gruppen Kontakt aufgenommen, sich mit ihnen auseinandergesetzt. Aber seitdem stagniert die Arbeit des Beirats nur noch, und Stagnation ist vielleicht sogar zu milde ausgedrückt.
Die Beiratsmitglieder übernehmen keine richtige Verantwortung für ihre Tätigkeit. Sie sind zu distanziert, sie reden nicht mehr mit den Gruppen. Aber man muß sich während des Arbeitsprozesses mit der Arbeit der Gruppe auseinandersetzen – anders kann man keine strukturellen Veränderungen einleiten. Der Beirat bemängelt immer wieder die Qualität der freien Szene. Trotzdem sitzen da seit inzwischen fünf, sechs Jahren zum überwiegenden Teil die gleichen Personen und entscheiden über die immer gleichen Gruppen und tun nichts dafür, aus diesem Kreislauf herauszukommen. Die freie Szene hat sich in den letzten Jahren durchaus entwickelt, und sie sollte von professionell arbeitenden Menschen begutachtet werden.
Sind Kritiker unprofessionell?
Es sind keine Theaterpraktiker, und sie sind nur auf das Endprodukt fixiert. Das heißt, sie gehen am Ende der Produktion in die Premiere, um das Ganze zu begutachten, und in der Regel haben sie kein Interesse, sich den Produktionsprozessen zu stellen. Aber um über die Förderung von Tanz- und Theaterproduktionen zu entscheiden, halte ich es für unabdingbar, den Arbeitsprozeß mit einzubeziehen.
Dem Arbeitsprozeß eine zu große Bedeutung beizumessen heißt, die Kunst nicht ernst zu nehmen. Letztlich zählt, was auf der Bühne zu sehen ist. Die öffentlichen Mittel werden schließlich nicht für private Selbstverwirklichung vergeben.
Sicher kann der Arbeitsprozeß nicht das entscheidende Kriterium für eine Förderung sein. Allerdings müssen sich diejenigen, die das Geld verteilen, auch in irgendeiner Form für das verantwortlich zeigen, was aufgrund ihrer Entscheidungen produziert wird. Es kann doch nicht so sein, daß eine Gruppe erst gefördert wird, die neue Produktion dann in der Zeitung verrissen wird und die Gruppe im nächsten Jahr kein Geld mehr bekommt – oder je nach Stimmungslage vielleicht doch. Beobachtet werden muß auch, was für eine Entwicklung eine Gruppe durchmacht. Die Entscheidungen dürfen nicht nur von einer einzelnen gelungenen Produktion abhängen, denn Theaterarbeit ist immer langfristig angelegt.
Und wie kann man die desolate Lage verändern?
Es muß ein völlig neues Modell gefunden werden. Der jetzige Beirat ist seit drei Jahren im Amt, und im Frühjahr müssen Neuwahlen stattfinden. So ist es in den vom Parlament verabschiedeten Richtlinien festgeschrieben. Das ist eine zu kurze Zeit, um ein neues Modell zu entwickeln. Zunächst müßten allerdings sehr bald einzelne Teile der Richtlinien verändert werden. Die Tanz Initiative hat inzwischen erste Konzeptionen für ein neues Modell entworfen: Die ehrenamtliche Tätigkeit sollte abgeschafft werden.
Anstelle von Kritikern sollten drei bis fünf Theaterpraktiker die Gruppen während der Arbeitsprozesse begleiten. Bezahlt werden diese Personen über einen Werkvertrag, der eine Laufzeit von zwei Jahren haben sollte. Diese „Beiräte“ würden mit etwa zehn Gruppen zusammenarbeiten, in die Proben gehen, sich mit den Künstlern auseinandersetzen. Sie sollten sie auch beraten. Sicher kann man den Gruppen nichts aufzwingen, aber das Gespräch sollte gesucht werden.
Ich halte die Distanz, die du den Kritikern vorwirfst, für eine notwendige Voraussetzung, um über die Förderung von Gruppen und vor allem über deren Nichtförderung zu entscheiden. Siehst du kein Problem in der Nähe, die bei einem Aufgabenbereich, wie du ihn beschreibst, zwangsläufig zwischen Beiratsmitgliedern und Künstlern entstehen muß?
Man ist immer befangen. Jeder Intendant eines Theaters muß sich für bestimmte Stücke ebenso wie für bestimmte Regisseure entscheiden. Mißlingt die Inszenierung, dann ist der Intendant dafür verantwortlich, und wenn ihm das mehrere Male hintereinander passiert, dann ist seine Position als Intendant gefährdet, und er muß seinen Hut nehmen. Das fordern wir von den „Produktionsbegleitern“ oder wie immer man sie auch bezeichnen will: Sie müssen für ihre Entscheidungen verantwortlich sein, und das bedeutet, daß sie auch für die Qualität der Produktionen, die aufgrund ihrer Entscheidung gefördert werden, eine Verantwortung tragen.
Das ist keine leichte Aufgabe. Dieses Modell hat die Tanz Initiative entwickelt, habt ihr eigentlich schon mit SPOTT, der Interessenvertretung der freien Theatergruppen, darüber gesprochen, und haben die überhaupt ähnlich große Probleme mit dem Beirat wie ihr?
Unser Modell ist ein Vorschlag, der sicher noch modifiziert werden muß. Zunächst einmal wünschen wir uns, daß er öffentlich diskutiert wird. Sicher wird es von SPOTT noch andere Vorschläge geben – aber daß etwas verändert werden muß, ist klar.
Das Problem ist doch, daß man nicht mehr von der freien Szene reden kann. Darunter wird ja von Laien bis hin zu professionellen Gruppen, die seit zehn oder fünfzehn Jahren in der Stadt arbeiten, alles subsumiert. Man muß hier ganz andere Unterscheidungen treffen und auch die Frage, wer wie gefördert wird, neu stellen. Es gibt Gruppen wie die Neuköllner Oper oder die Tanzfabrik, die nicht wie andere Theatermacher in die Privattheater-Förderung hineingekommen sind. Wo gibt es einen inhaltlich vertretbaren Grund dafür, daß sich diese Gruppen alle drei Jahre um eine Förderung bemühen müssen, während das zum Beispiel bei dem Kleinen Theater am Südwestkorso, der Tribüne oder der Vagantenbühne eine Selbstverständlichkeit zu sein scheint? Müssen die Theaterstrukturen insgesamt nicht noch in vielerlei Hinsicht neu überdacht werden, wenn man davon ausgeht, daß der Begriff „freie Szene“ heute wesentlich eine Produktionsweise beschreibt?
Natürlich ist es auch wichtig, Anfängern eine Chance zu geben. Das gelingt ja auch gelegentlich, aber ich habe den Eindruck, daß man in Berlin darauf hofft und wartet, daß Personen wie Sascha Waltz oder Jo Fabian, die ihre Arbeit an anderen Orten beginnen konnten, nach Berlin kommen und daß man nicht die Strukturen dafür schafft, das hier vorhandene Potential zu fördern und so auch wieder andere interessante Menschen in die Stadt zu locken. Interview:
Michaela Schlagenwerth
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