Kurzgeschlossene Zeiten

Nationale Handschrift in den Filmen einer Nation? Retrospektive auf die Geschichte des belgischen Films in Arsenal und Babylon-Mitte  ■ Von Andrea Kern

Als der belgische Filmemacher André Delvaux 1965 seinen Film „Der Mann, der sich die Haare kurz schneiden ließ“ in die belgischen Kinos brachte, war er ein Nobody und sein Streifen lange Zeit so gut wie unbekannt. Belgisches Kino? Das schien es bis dahin nicht zu geben. Sang- und Klanglos wäre Delvaux' Geschichte über den gescheiterten Rechtsanwalt Miereveld, den die Liebe zu einer Frau schier zum Wahnsinn treibt, denn auch untergegangen, hätte nicht eines Tages ein Kritiker durch Zufall den Film in Paris entdeckt, wo er in einem winzigen Kino lief.

Fast lawinenartig löste er daraufhin allerorts Begeisterung aus. Für die Wahrnehmung des belgischen Films in der internationalen Branche ist der „Fall“ Delvaux geradezu typisch: Die meisten belgischen Filme leben davon, immer nur zufällig und zumeist erst nachträglich entdeckt zu werden – wenn überhaupt. Die wenigen Ausnahmen, die unmittelbar Erfolg hatten, lassen sich an einer Hand abzählen: Chantal Akermans monomanische Echtzeit-Studie über „Jeanne Dielman“ (1975) oder, in jüngster Zeit, „Toto – der Held“ (1991) von Jaco van Dormael oder natürlich „Mann beißt Hund“ (1992).

Als eine Art Nachhilfeunterricht in Sachen belgischer Film haben das Arsenal und das Babylon- Mitte nun gemeinsam eine Retrospektive zusammengestellt, die vom 15. 1. bis 5. 2. in beiden Kinos zu sehen ist. Eine Tour de force durch die Geschichte des belgischen Films: Beginnend mit Stummfilmen von Charles Dekeukelaire aus den späten Zwanzigern über die polemisch montierten Filme des frühen Henri Storck, den die Filmgeschichtsschreibung auch gerne als Gründungsvater des belgischen Kinos handelt, bis hin zu Boris Lehmans ethnographischem Opus über ein altes Brüsseler Stadtviertel, „Magnum Begynasium Bruxellense“ (1978), hat man hier forsch über sechzig Jahre belgischen Film zu einem zweiwöchigen Paket zusammengeschnürt. Daß damit der „Geist einer Nation im Schmetterlingsnetz“ eingefangen werden soll (so der Titel der Reihe), folgt allerdings einer ziemlich veralteten und überdies fragwürdigen Idee: daß nämlich Filme bestimmter Nationen etwas ganz besonders Typisches dieser Nation sind. Nein, eine spezielle belgische Handschrift konnte ich zum Glück in keinem der gezeigten Filme ausmachen. Dafür aber sind den Veranstaltern ein paar erstklassige Filme ins Netz gegangen, die man sich nicht entgehen lassen sollte.

Etwa „Monsieur Fantômas“ von Ernest Moerman von 1937. Auch wer wie ich nicht gerade zu den Liebhabern des surrealistischen Films gehört, wird begeistert sein. Erzählt wird die Geschichte eines gewissen Herrn Fantômas, eines tolldreisten Abenteurers, dem eine Herde herrlich dummer Polizisten vergeblich auf den Fersen ist. Surrealismus at it's best: Denn daß die Bilderfolge im Ganzen keinen Sinn macht, heißt hier: Sie ist durch und durch komisch.

Nicht unbedingt ein Meilenstein in der Filmgeschichte, aber der Skandalfilm schlechthin des Jahres 1969 auf dem Oberhausener Filmfestival war der Kurzfilm „Blutige Fee“ von Roland Lethem. Der belgische Beitrag führte damals zu handgreiflichen Protesten von seiten des Publikums, und die Presse verriß ihn unisono als „ekelhaft“ und hielt den Regisseur für „reif für die Psychoanalyse“. Die Story ist erwartungsgemäß harmlos: eine Bettgeschichte. Freilich mit dem pikanten Zusatz, daß die weibliche Hauptfigur ihren ahnungslosen Bettgenossen regelmäßig nach dem Akt den Schwanz abnimmt.

Zu den stärksten Filmen der Retrospektive gehört für meinen Geschmack „Bruxelles-Transit“ (1980) von Samy Szlingerbaum. Der Film beschreibt das Schicksal einer jüdischen Familie, die nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges ohne Visum und Papiere von Warschau nach Brüssel übersiedelt und dort mehr schlecht als recht Fuß zu fassen versucht.

Es ist die Geschichte seiner eigenen Kindheit, die sich Szlingerbaum von seiner Mutter im Off erzählen läßt. „Man kann nicht immerzu vom Krieg erzählen“, sagt sie und erzählt sodann vom Leben danach. Die quasi dokumentarischen Schwarzweißaufnahmen, mit denen Szlingerbaum ihre Geschichten nachbildet, haben eine prekäre Zweideutigkeit: Während die Off-Stimme der Mutter die Bilder wie ein Fotoalbum lesen läßt, verhehlen sie dennoch nicht – deutlich sieht man es an den Straßenszenen – die Signatur ihrer eigenen Zeit. Der Film erinnert sehr an das Verfahren, das Straub/Huillet in „Nicht versöhnt“ angewendet haben. Mit derselben Intention: Indem die Zeitebenen nicht markiert werden, schließt der Film provozierend die Vergangenheit mit der Gegenwart kurz.

Der hochgelobte Brüssel-Film von Boris Lehman, der bei Szlingerbaum übrigens die Hauptrolle spielt, scheint mir dagegen etwas naiv: Mit dem Pathos des Alles- für-die-Zukunft-festhalten-Wollens und dem gestellten Charme von Laien filmt er Brüssel, als wär's ein Bauerndorf.

Von den über 30 Filmen, die gezeigt werden, sei noch ein letzter unbedingt empfohlen: Thierry Knauffs Verfilmung der Biographie von „Anton Webern“ (1991). Es ist ein Film ganz ohne Text, man hört nur die Musik von Webern, wie sie Pierre Boulez dirigiert. Knauffs gelingt, was in jüngster Zeit nur Derek Jarman mit seinem Wittgenstein-Film geschafft hat: er rechtfertigt das Genre.

Vom 15. 1. bis 5. 2. im Arsenal, Welser Straße 25, und in Babylon- Mitte, Rosa-Luxemburg-Straße 30