Akten für Bürger, Akten für Geheimdienste

Am 15. Januar 1990 wurde die Zentrale der Stasi vom „revolutionären Subjekt“, den Bürgern, gestürmt / Dieser demokratische Impuls – eine generelle Ablehnung von Geheimdiensten – hat die Politik wenig beeinflußt  ■ Von Andreas Schreier

Mit Fantasie gegen Stasi und Nasi“, so rief vor fünf Jahren, die Wendewirren in der DDR hatten ihren Höhepunkt bereits überschritten, das Berliner Neue Forum zu einer „Aktionskundgebung“ in die Ostberliner Normannenstraße. Dort befand sich das Herz, die Zentrale der ungeliebten, zu dieser Zeit bereits verendenden Staatssicherheit.

An diesem 15. Januar 1990 berichteten Radio und Fernsehen stundenlang live von der 11. Sitzung des Runden Tisches, an dem sich Opposition und Regierung im „Dialog“, wie es damals häufig genannt wurde, übten. Höhepunkt der Sitzung war an diesem Tag der Bericht des Ministerpräsidenten Hans Modrow über den Stand der Auflösung des Amtes für Nationale Sicherheit, Nasi, wie die Stasi jetzt hieß. Dieser Bericht fiel dem Ministerpräsidenten nicht leicht. Nach seiner Amtsübernahme hatten er und seine Regierung immer wieder durch allerlei Tricks versucht, die Forderung der zahlreichen Demonstrationen nach Abschaffung des Geheimdienstes zu umgehen. Durch Rettungsmanöver wie die Umtaufe des Ministeriums für Staatssicherheit in Amt für Nationale Sicherheit. Später wurde es, kompatibel mit bundesdeutschen Behörden, in Verfassungsschutz und Nachrichtendienst umbenannt.

Das Ergebnis dieser Aktionen war nicht das Gewünschte. Der Druck von der Straße wuchs an. Die Folge war die Besetzung der 15 Bezirksverwaltungen der Staatssicherheit durch aufgebrachte Bürger. Am 12. Januar 1990 gab Modrow den Verzicht auf die Schaffung neuer Sicherheitsorgane bekannt. Nun mußte er erstmals den Vertretern der Opposition am Runden Tisch Auskunft über Personalstärke, Struktur, Finanzen und Arbeitsweise der Staatssicherheit geben. Die von Modrow veröffentlichten Mitarbeiterzahlen, 85.000 Hauptamtliche und 109.000 Inoffizielle, entsetzten damals nicht nur die Menschen in der DDR. Selbst der Westen war beeindruckt. Bundesdeutsche Schätzungen beliefen sich auf weniger als ein Drittel der genannten Zahlen.

Unter dem Eindruck dieser Enthüllungen folgten die Menschen dem Aufruf des Neuen Forums und pilgerten am späten Nachmittag des 15. Januar 1990 zu Tausenden in Richtung Stasi-Zentrale. Einige von ihnen brachten, wie es die Initiatoren der Kundgebung empfahlen, Ziegelsteine und Farbspraydosen mit. Damit gedachte man die grauen Mauern der Geheimdienst-Festung zu verzieren. Außerdem wollte man, sozusagen als symbolischen Akt, mit den Steinen die Tore der Stasi- Zentrale zumauern.

Überhaupt nicht im Sinne der Initiatoren war das, was kurz nach Beginn der Kundgebung geschah. Plötzlich setzten sich die Massen, nach Angaben des DDR-Fernsehens waren es knapp 100.000 Demonstranten, in Bewegung – drangen durch ein Tor in das Innere der Stasi-Burg ein. Besonders angetan hatte es ihnen dort der Versorgungstrakt.

So bedienten sich einige Demonstranten ausgiebig an den Weinvorräten im Keller, probierten hier etwas vom Räucheraal und da etwas von dem Schinken in der Kaufhalle, steckten hier ein Buch in die Tasche und klauten da dem Stasi-Friseur eine Flasche West-Shampoo. Eine Gruppe junger Männer mit sehr kurzen Haaren und in Bomberjacken war auffällig gut vorbereitet. Mit Brechstangen, Hämmern, Äxten und diversem anderen Werkzeug machten sie sich wahllos über nicht immer verschlossene Türen her. Aus den Fenstern der oberen Stockwerke rieselte ein permanenter Papierregen aus Formularen, Briefen, Kontoauszügen und meist unbedeutenden Dokumenten auf die vor dem Gebäude wartende Menschenmenge herab. Die meisten Demonstranten wandelten jedoch durch den Versorgungstrakt wie durch ein Museum.

Das DDR-Fernsehen unterbrach wegen dieser Ereignisse seine Übertragung der Sitzung des Runden Tisches und wiederholte immer wieder dramatisch die Mitteilung, daß „die Demokratie in Gefahr sei“. Aus Angst vor einer Eskalation der Situation in der Stasi-Zentrale sah sich der Runde Tisch veranlaßt, seine Arbeit für diesen Tag zu beenden. In einem Autokonvoi in Begleitung der Blaulichter der Volkspolizei machten sich Bürgerrechtler gemeinsam mit den Vertretern der Altparteien auf den Weg vom Tagungsort des Runden Tisches in Niederschönhausen zum Ort des Geschehens nach Lichtenberg, um die Stasi zu retten. Angekommen, hielt man eine Reihe von Reden, versuchte die Demonstranten zu beruhigen. Später stieß dann auch der alarmierte Hans Modrow dazu.

In der Zwischenzeit hatte sich spontan das heute mehr oder weniger legendäre Bürgerkomitee gebildet. Der bunte Haufen fand sich aber nicht zum Zweck der Kontrolle der Stasi-Auflösung zusammen, sondern zur Beruhigung und Kontrolle der Anti-Stasi-Demonstranten. Mit gelb-grünen „Keine Gewalt“-Stoffscherpen versehen, mußte erst einmal Ordnung geschaffen werden. „Deutsche Revolutionäre sahen sich mit dem revolutionären Subjekt konfrontiert“, wie das damals ein Augenzeuge nannte. Die Bürgerkomiteeler holten die Demonstranten aus dem heimgesuchten Stasi-Gebäude und nahmen den Eindringlingen ihr „wertvolles“ Beutegut wieder ab.

Am Tag danach war der Katzenjammer groß. Alle oppositionellen Gruppen beklagten „den Vandalismus und die Zerstörung“. Die Bürgerbewegung Demokratie Jetzt ging sogar so weit, die Ablösung Reinhard Schults als Sprecher des Neuen Forums am Runden Tisch zu verlangen. Sie machten ihn verantwortlich für die aus dem Ruder gelaufene Kundgebung.

Auch in der DDR-Presse wurde über das Ereignis, welches neben den Massendemonstrationen vielleicht das einzige war, was an klassische Revolutionen erinnerte, nur gejammert. Die Berliner Zeitung verurteilte damals „die aufgeputschte Menge“, die „plündernd und zerstörend durch die Gebäude gezogen“ war. Das Neue Deutschland rief aus: „Das hat mit friedlicher Revolution nichts mehr zu tun“, und in einem Kommentar der Blockflöten-National-Zeitung wurden verlogen die „bedrückenden und erschreckenden Akte der Gewalt und des Vandalismus“ beklagt. Nur die damals gerade legalisierte wichtige Untergrundzeitschrift telegraph machte sich über das Klagen um die „Scherben von Mielkes Nachttopf“ lustig. In den folgenden Monaten tauchten immer mehr Indizien auf, daß die Demonstranten nicht die einzigen waren, die ein Interesse am Eindringen in die Stasi-Zentrale hatten. So wurde von Augenzeugen übereinstimmend bestätigt, daß das Tor, durch das die Massen auf das Gelände strömten, von Innen geöffnet wurde, die dort anwesende Polizei oder die Stasi-Mitarbeiter selbst die Demonstranten hineinließen.

Sicher wußten die DDR-Geheimdienstler, daß ihre Tage in der Zentrale gezählt waren. Ihre Stasi- Einrichtung war die einzige in der DDR, welche noch nicht unter Bürgerkontrolle stand. Warum also nicht den Volkszorn kanalisieren, auf unbedeutendere Objekte lenken? Und genau das passierte. Aus dem unbedeutenden Versorgungstrakt flogen schon die ersten Gegenstände durch die Scheiben nach draußen, als sich noch kein Demonstrant im Gebäude befand.

Die wirklich wichtigen Bereiche waren für die Bürger Tabu. Niemand versuchte in das Archiv, in dem die Akten lagerten, einzudringen. Ebenso unberührt blieb die Auslandsaufklärung. Ein gewisser Stasi-Oberst Brückner behauptete in derBerliner Zeitung, daß sie selbst die „Erstürmung“ leiteten. Wenn es stimmt, was er sagt, so konnten er und seine Genossen jedoch nicht verhindern, daß aller Wahrscheinlichkeit nach ihre westlichen Geheimdienstkollegen ebenfalls in das Gebäude eindrangen und gezielt Räume durchsuchten. Ziel der Durchsuchung war das Haus, in dem die Hauptabteilung II, welche überwiegend zu westlichen Geheimdiensten arbeitete, ihre Büros hatte. Für die Oppositionsgruppen am Runden Tisch machte sich die „Erstürmung“ bezahlt. Der Auflösungsprozeß der Staatssicherheit konnte ab diesem Tag merklich beschleunigt werden. Die Stasi-Debatte nahm ihren Lauf. Durch den Zugang zu den Unterlagen des Ministeriums für Staatssicherheit wurde in den darauffolgenden Monaten und Jahren viel über die Struktur und Arbeitsweise eines (!) deutschen Geheimdienstes bekannt. Viele Inoffizielle Mitarbeiter wurden enttarnt.

Der Sinn und der Umgang mit diesen Enttarnungen ist bis in die jüngste Zeit äußerst umstritten. Eins steht jedoch fest: die große Abneigung gegenüber Geheimdiensten und Politischer Polizei, die in der Bewegung des Herbstes 89 und der Wende in der DDR immanent war, wurde von den meisten ehemaligen Oppositionellen aus der DDR nicht aufgegriffen.

Jene, die sich in den letzten Jahren in der Öffentlichkeit zum Thema „Aufarbeitung der DDR- Geschichte“ produzierten, haben versäumt, diesen wichtigen demokratischen Impuls in die Tagespolitik des sogenannten vereinten Deutschlands zu tragen.

In der heutigen Diskussion um die drohende Schließung der Stasi- Unterlagen sei daran erinnert, daß ein Teil der ehemaligen Bürgerbewegten durch ihre Zustimmung zum Stasiunterlagengesetz dafür die Verantwortung tragen, daß die Akten ganzer MfS-Hauptabteilungen für die Öffentlichkeit nie zugänglich waren – Stasi-Material, an dem die Bundesregierung vorgibt, ein Sicherheitsinteresse zu haben. Wieder können allerlei Geheimbehörden auf diese Akten zugreifen.