Ohne Risiko auch keine Tempel von Angkor Wat

„Ich überlebte Kambodscha“: Kidnapping und Ermordung westlicher Touristen gefährden die Zukunft Kambodschas als Reiseland. Dabei setzt die Regierung hohe Erwartungen in die Wachstumsindustrie Tourismus  ■ Von Volker Klinkmüller

In der großen Bahnhofshalle von Phnom Penh herrscht Totenstille. Die Ticketschalter sind verrammelt. Draußen – zwischen den Gleisen des Bahnsteigs – sprießt üppige Vegetation. Das Gelände ist ein einziger Friedhof von Eisenbahnwaggons. Durchlöchert von Gewehrkugeln und Granatsplittern, teilweise nur als rostiges Stahlgerippe oder faulendes Holzgerüst, zeigen sie, daß es mit Kambodschas Eisenbahnwesen nicht gerade zum besten steht. Auch die Lokomotive, die gerade mit dem zweiten Signalton ihre Abfahrt zum Küstenort Sihanoukville ankündigt, sieht nicht gerade vertrauenerweckend aus: Die dreißig Jahre alte, aus Frankreich stammende Zugmaschine wirkt armiert wie ein Blockadebrecher. Die Frontpartie ist mit einer 25 Millimeter dicken Stahlplatte geschützt. Vor sich her schiebt sie zwei Waggongestelle, die eventuell ausgelegte Minen detonieren lassen sollen.

Als sich die „Deathway Railway“ langsam in Bewegung setzt, springen auch die letzten Soldaten des militärischen Begleitpersonals auf, um hinter Verschlägen und Sandsäcken ihre Positionen einzunehmen. Mehr als zwölf Überfälle der Roten Khmer – davon allein vier in der ersten Jahreshälfte 1994 – hat es auf dieser Eisenbahnverbindung gegeben. Die Strecke gehört zu den landschaftlich reizvollsten in Südostasien. Deshalb konnte das schaurige Szenario des Bahnhofsgeländes wohl auch nicht den Briten Mark Slater (28), den Australier David Wilson (29) und den Franzosen Jean-Michel Braquet (27) davon abhalten, diesen Zug am Morgen des 26. Juli zu besteigen. Die drei Rucksacktouristen mußten ihre Neugier und Abenteuerlust mit dem Leben bezahlen.

Mit einer faszinierenden Landschaft aus leuchtend grünen Reisfeldern mit Zuckerpalmen und Strohhütten, dschungelbedeckten Bergen, einer 354 Kilometer langen, weithin unberührten Küste und den Tempelanlagen von Angkor Wat, die mit ihren einzigartigen Steinreliefs als „achtes Weltwunder“ zu den größten Kunstschöpfungen der Menschheit zählen, verfügt Kambodscha über gewaltiges touristisches Potential. Aber in den letzten Jahrzehnten haben Schlagzeilen immer wieder dafür gesorgt, daß dieses Land aus den Reisekatalogen gestrichen wird. Auch nach den freien Wahlen und dem Abzug der Vereinten Nationen im September 1993 ist es dem durch Völkermord und Bürgerkrieg geplagten Land nicht gelungen, zu Frieden und Normalität zurückzukehren. Die Roten Khmer, die mit schätzungsweise 9.000 Guerillas rund ein Fünftel des Königreichs kontrollieren, bestimmen durch Massaker, Sabotage und Terror noch immer die Geschicke Kambodschas.

Auch an dem Tag, als die drei westlichen Traveller nach Sihanoukville fahren wollten, lauerten die Guerillas dem Zug auf, brachten ihn östlich des Städtchens Kampot durch eine Minenexplosion zum Entgleisen. 13 Einheimische wurden getötet, die Ausländer gemeinsam mit 16 Kambodschanern, 3 erbeuteten Autos, 50 Motorrädern, Vieh und den Wertsachen von rund 300 Passagieren in das 15 Kilometer entfernte Lager auf dem Phnom Vour (Berg Vine) verschleppt, den die Roten Khmer seit 1979 besetzt halten. Die Entführung der Touristen war, wie sich inzwischen herausgestellt hat, geplant. Bereits bei der Abfahrt in Phnom Penh sind Agenten der Guerillas mit in den Zug gestiegen. Sie hinderten die drei Westler beim Überfall gewaltsam an der Flucht.

Die Roten Khmer, für ihre Grausamkeit und Brutalität in der Pol-Pot-Zeit (1975–1979) berüchtigt, sind mit ihren Geiseln nicht gerade zimperlich umgegangen. Nach Aussagen von Augenzeugen wurden die drei Ausländer unter härtesten Bedingungen gefangengehalten. Als tägliche Nahrung erhielten sie nur etwas Reis und Salz. Nachts mußten sie – ohne Matten und Moskitonetze – auf einem schmalen Holzbrett schlafen. Die Umgebung ihrer primitiven, nur sechs mal drei Schritte kleinen Hütte, die gerade mal 20 Meter vom Unterschlupf des „Commanders Nuon Paet“ entfernt lag, war vermint. Pro Person 46.000 Dollar in Gold forderte der Rebellengeneral, der in dieser Region rund 300 Guerillas befehligte, für die Freilassung der Touristen. Außerdem sollten westliche Staaten öffentlich versprechen, der kambodschanischen Armee die angekündigte Militärhilfe zu verweigern. Die Entführung war ein Racheakt an der Regierung, die die Roten Khmer gerade erst per Gesetz als „Outlaws“ geächtet hatte.

Schon bald nach der Entführung war um die Touristen ein heftiger Kampf entbrannt. General Veng, der den Phnom Vour mit rund 3.000 Regierungssoldaten umzingelt hatte, forderte für seine „Befreiungsaktion“ acht weitere Panzer, zwei Apache-Helikopter und eine Batterie 105-mm-Kanonen. Gleichzeitig wurde das Gebiet – ohne jegliche Rücksicht auf die Gefangenen – unter starkem Granatenfeuer gehalten. In Videofilmen, persönlichen Briefen und diktierten Mitteilungen flehten die Gefangenen, das Bombardement endlich einzustellen. „Ihr tötet nur unschuldige Bauern“, beteuerte der gekidnappte Marc Slater barfuß und abgemagert vor der Videokamera seiner Entführer. „Wenn das Bombardement nicht aufhört, wird es keinen Lösegeldaustausch geben.“ Diplomaten und Sicherheitsexperten hatten sich allerdings sowieso gegen die Zahlung von Lösegeld gewandt, weil dann jeder Ausländer in Kambodscha zum Freiwild werden würde.

Während die Schlacht um die Geiseln tobte, bat König Norodom Sihanouk in einem Brief an Khieu Samphan – den nominellen Führer der Roten Khmer – um die Beendigung der Geiselnahme. Gleichzeitig warnte er Ausländer zum ersten Mal, durch sein Land zu reisen, weil ihre Sicherheit nicht garantiert werden könne. Tatsächlich handelte es sich bei der Entführung der drei Traveller nicht um einen Einzelfall: Bereits im Frühjahr 1994 war die amerikanische Entwicklungshelferin Melissa Himes verschleppt, später aber unversehrt freigelassen worden. Im Juni wurden die Leichen der Australierin Tina Dominy sowie des britischen Pärchens Dominic Chappell und Kellie Wilkinson gefunden, die am 11. April spurlos verschwunden waren. Die drei Ausländer sind auf der Nationalstraße 4 von Phnom Penh nach Sihanoukville unterwegs gewesen, wo sie das Touristencafé „Rendezvous“ betrieben hatten. Während aus dem Bereich Angkor Wat in der Provinz Siem Reap bisher keine größeren Zwischenfälle gemeldet wurden, sind Raubüberfälle in der Hauptstadt Phnom Penh an der Tagesordnung. Besonders betroffen sind Motorradtaxifahrer, aber gelegentlich auch Autobesitzer, die – nicht selten am hellichten Tag und mitten in der Stadt – von Banditen mit vorgehaltener Waffe zur Herausgabe ihres fahrbaren Untersatzes gezwungen werden.

„Nach Einbruch der Dunkelheit wird es hier in Phnom Penh mit jeder Stunde gefährlicher. Allein vor unserem Gebäude gab es in den letzten sechs Wochen drei Schießereien“, so der deutsche Botschafter, Wiprecht von Treskow. In das Landesinnere Kambodschas wagt sich der deutsche Botschafter nur mit Eskorte. Auf der letzten Dienstfahrt in den Norden des Landes ließ er sich von zwei Armeetrucks mit 18 Soldaten begleiten. „Kambodscha ist im Moment der Wilde Osten. Hier ist alles möglich“, meint der Botschafter. Die Aufregung um den deutschen Feldwebel Alexander Arndt im Oktober 1993 hat er noch nicht vergessen. Der 27jährige Sanitätssoldat aus Hildesheim war mit seinem Untac-Geländewagen durch eine Pfütze gefahren und hatte einen Kambodschaner naß gespritzt, der ihn dann umgehend erschossen hat. Aber nicht nur wegen der schlechten Sicherheitslage, sondern auch wegen der mangelhaften Infrastruktur rät der Botschafter vom Besuch des Landes ab. „Angkor Wat läuft ja nicht davon. Es ist besser, mit der Besichtigung der Tempelanlagen noch zu warten.“

Seit wenigen Tagen ist für ihn ein Alptraum Wirklichkeit geworden: Den Streß seiner Kollegen aus Großbritannien, Australien und Frankreich vor Augen, die fast drei Monate verzweifelt um das Leben ihrer Geiseln gekämpft haben, muß sich von Treskow nun selbst mit der Entführung eines Bundesbürgers auseinandersetzen. Der 32jährige Matthias Wolf aus Stade, der mit einem gemieteten Motorrad im thailändisch-kambodschanischen Grenzgebiet unterwegs war, ist den Roten Khmer in die Hände gefallen. Der Mann, der bereits seit zwei Jahren in Südostasien lebt und als unvernünftiger „Abenteurer“ beschrieben wird, hatte alle Warnungen des Militärs mißachtet und gilt als vermißt. (Meldungen, daß ihn die Roten Khmer bei einem Fluchtversuch erschossen haben, sind bisher noch nicht bestätigt.) Überhaupt scheint Kambodscha neuerdings eine besondere Art Touristen anzulocken, die Gefahr als Reiz empfinden und tödlichen Nervenkitzel nicht scheuen. Als „Mutprobe“ unter risikofreudigen Travellern gilt zur Zeit die rund sechsstündige Bootsfahrt über den Tonle Sap von Phnom Penh nach Siem Reap (Angkor Wat). Die Passage kostet nur 16 US-Dollar (der Flug 45 Dollar), vielleicht aber auch das Leben: Zum einen befinden sich Teile des Seeufers unter Kontrolle der Roten Khmer, zum anderen treiben auf dem riesigen Gewässer allerlei Piraten ihr Unwesen. Westliche Passagiere sind bei den letzten Überfällen allerdings glimpflich davongekommen. Sie wurden nur ihre Wertsachen los.

Noch immer wird in den kambodschanischen Zeitungen über Hergang und Hintergründe des tödlichen Geiseldramas vom Sommer spekuliert. Fest steht, daß der intensive Beschuß des Phnom Vour zu einem gewissen Erfolg – und zum vorläufigen Ende der Tragödie – geführt hat. Zermürbt vom Hagel der Granaten, ist Colonel (Oberst) Chhouk Rin Mitte Oktober mit rund 100 Roten Khmer und deren Familien zu den Regierungstruppen übergelaufen. Rin, der als enger Gefolgsmann Commander Paets den blutigen Zugüberfall am 26.Juli befehligt hatte, half sogar bei der Eroberung des 18 mal 8 Kilometer großen Bergareals und zeigte den einst gegnerischen Soldaten den Weg durch die Minenfelder. Nach längerem Suchen wurden die Gräber der Rucksacktouristen Ende Oktober gefunden. Die drei Traveller waren bereits einen Monat zuvor – gemeinsam mit zwei Kambodschanern und drei ethnischen Vietnamesen – auf Befehl Commander Paets hingerichtet worden. Eine Untersuchung der Leichen ergab, daß den Gekidnappten nach der berüchtigten „Killing-Fields-Methode“ die Hinterköpfe eingeschlagen wurden. Auch Kugeln aus AK-47-Gewehren wurden in den Leichen gefunden. Commander Paet, der Hauptverantwortliche des Geiseldramas, war entkommen. Einen Teil des Lösegelds, das ihm offenbar gezahlt worden ist, hat er benutzt, um Regierungssoldaten zu bestechen und den Belagerungsring auf diese Weise zu durchbrechen. Sein ehemaliger Waffengefährte Colonel Rin erfreut sich unterdessen zahlreicher Annehmlichkeiten: Die Regierung in Phnom Penh hat ihm – nach einem spontanen, makabren Welcome-Dinner mit Tanzeinlagen – nicht nur umgehend Amnestie und eine 200-Dollar-Prämie gewährt, sondern ihn auch in eine höherrangige Regierungsuniform gesteckt. Fast schon eine typische Lösung in Kambodscha.

Großbritannien, Australien und Frankreich sind über die kambodschanische Lösung der Geiselfrage empört – und auch Thailand ist verärgert. Denn der australische Außenminister hat dem Nachbarland Kambodschas öffentlich und wiederholt vorgeworfen, die Roten Khmer noch immer politisch, wirtschaftlich und militärisch zu unterstützen. Für die Roten Khmer dagegen stellt sich die Tragödie vom Phnom Vour sehr viel profaner dar: Nachdem sie anfangs jede Verantwortung für das Schicksal der Geiseln ablehnten, haben sie die drei ermordeten Traveller im nachhinein einfach zu „Spionen“ erklärt.

Ungeachtet der komplizierten Sicherheitslage träumt die kambodschanische Regierung weiterhin davon, den Tourismus zum Motor des wirtschaftlichen Aufschwungs zu machen. „Ohne Besucher gibt es keine Devisen und keine Arbeitsplätze. Wir müssen unsere Infrastruktur entwickeln – mit oder ohne die Roten Khmer!“ bekräftigt Minister Veng Sereyvuth, der in der neugewählten Regierung für Fremdenverkehr zuständig ist. Immer wieder beteuern die Behörden, daß die touristischen Zentren Phnom Penh, Angkor Wat und Sihanoukville „hundertprozentig sicher“ seien, „genauso wie es London, Paris oder New York sind“. 1997 möchte er zum „Jahr des Tourismus“ machen, zur Jahrtausendwende erhofft er sich bereits eine Million Besucher. Bis zu den Touristenmorden schien das auch nicht ganz unrealistisch: Denn von 1990 bis 1993 hatte sich die Zahl der Besucher immerhin rasant von 3.500 auf 118.000 gesteigert. Für das Jahr 1994 hatte man erstmalig 250.000 Touristen erwartet. Aber allein im August wurden rund 40 Prozent der gebuchten Gruppenreisen storniert.

Die Regierung bemüht sich hartnäckig, Investoren für weitere Anlagen in das Land zu locken: Hotels und andere Tourismusprojekte bekommen nach einem Anfang August verabschiedeten Gesetz eine hundertprozentige Steuerbefreiung für das erste Betriebsjahr und alle Materialien, die zur Verwirklichung der Projekte importiert werden müssen.

In Phnom Penh sind bereits einige Großbaustellen in Betrieb. Ein Konsortium aus Singapur läßt das 13stöckige „Olympic Hotel“ hochziehen. Ein anderes Mammutprojekt ist das „Hotel Regency“, das von einer thailändischen Firma errichtet wird. Auch die Gesellschafter des berühmten „Raffles Hotels“ in Singapur zeigen sich optimistisch. Sie haben gerade ein Joint-venture unterzeichnet, um das legendäre, in den zwanziger Jahren errichtete und stark heruntergekommene „Le Royal“ in Phnom Penh zu einem Sechs-Sterne-Hotel mit über 200 Zimmern auszubauen.

Schwerpunktmäßig will Tourismusminister Veng Sereyvuth darangehen, den Küstenort Sihanoukville zum internationalen Seebad auszubauen. Unter seinem Slogan „Millionen Besucher bringen Milliarden Dollar“ sollen eines Tages 30 Hotels die bisher einsamen, unverbauten Sandbuchten zieren. Golfplätze, ein Spielcasino und ein Yachthafen sind genauso gewünscht wie ein internationaler Flughafen als zweites Tor nach Kambodscha. Eifrig gebaut wird bereits am Pochentong-Airport in Phnom Penh. Vor kurzem noch ließ der Flughafen, auf dem 1996 sogar Jumbo-Jets landen sollen, elementare Sicherheitsstandards und jeglichen Komfort vermissen. Jetzt kann die neue Abflughalle immerhin schon mit einem modern gestylten Duty-free-Shop aufwarten, in dem fast nur Luxusartikel erhältlich sind. Touristen-T-Shirts mit dem Aufdruck „I survived Cambodia“, die bei Straßenhändlern in Phnom Penh zur Zeit der große Renner sind, gibt es hier allerdings nicht.