Apocalypse wow

Joseph Heller hat Yossarian aus „Catch-22“ wiederbelebt  ■ Von Jörg Magenau

Die Zeit der Weltuntergänge ist eigentlich vorbei. Es war in den achtziger Jahren, als wir glaubten, ein wildgewordener US-Präsident könnte jederzeit auf den roten Knopf drücken, um das Böse auszurotten, oder die nie ganz geheuren Russen würden ihre unergründlichen Raketenschächte öffnen und uns samt dem ganzen Erdball vernichten. Das ist lange her. Der heutige US-Präsident ist ein weicherer Charakter, die Sowjetunion gibt es nicht mehr, und eigentlich hindert uns nichts daran, ewig zu leben. Zwar existieren immer noch genug Atomwaffen, um die Welt auszuradieren, aber sie erreichen nicht mehr die Regionen unserer Phantasie. Das apokalyptische Bewußtsein der achtziger Jahre ist durch das pragmatische Gegenwartsgewurstel der Neunziger abgelöst. Friede sei mit uns; Kriege sind anderswo.

Da mag es erstaunen, daß der New Yorker Autor Joseph Heller nun antizyklisch einen Roman mit dem Titel „Endzeit“ vorlegt, komplett mit atomarer Apokalypse und dem obligatorischen Mond, der, nachdem alles gelaufen ist, „rot wie eine sinkende Sonne“ am Himmel hängt. Und doch ist Hellers Apokalypse nur noch ein schwächlicher Abklatsch früherer Weltuntergänge. Hier findet kein erbitterter Showdown mehr statt, zieht nicht mehr das Gute heroisch gegen das Böse zu Felde. Der Feind ist unbekannt, und so kämpft jeder nur noch für sich selbst: Die Zerstörung der Welt ist so sinnlos und zufällig wie ihre Existenz.

Hauptfigur in diesem New Yorker Weltuntergangspanorama ist Yossarian, den Heller-Leser und Kinogänger bereits als Bomberpiloten aus dem 1961 erschienenen Anti-Kriegsroman „Catch-22“ kennen. Dieser Roman, in dem Heller seine Erlebnisse als Flieger im Zweiten Weltkrieg verarbeitete, avancierte zum Kultbuch der Anti-Vietnamkriegs-Generation und wurde weltweit mehr als zehn Millionen mal verkauft. „Catch-22“ führte die Verrücktheit militärischer Logik vor, zeigte den Krieg nicht als heldische Schlacht und Ort der Bewährungen, sondern als bürokratische Absurdität. Yossarian versuchte, den zu fliegenden Einsätzen zu entgehen, indem er sich ins Lazarett flüchtete, um sich vom Schwadronsarzt für verrückt erklären zu lassen. Doch der lehnte ab: Einer, der den Wunsch habe, sich vorm Krieg zu drücken, könne wohl kaum verrückt sein. So blieb als einziger Ausweg die Desertion.

Auch am Anfang von „Endzeit“ – in bewährter Bestsellermanier fast zeitgleich im Original und in der deutschen Übersetzung von Joachim Kalka erschienen – leistet Yossarian sich eine Verrücktheit und desertiert vorübergehend. Wieder liegt er im Krankenhaus, obwohl er nicht wirklich krank ist, nur ein bißchen hypochondrisch. Er demonstriert eine matte Verweigerungshaltung gegenüber der Welt, einen vergeblichen Versuch, nicht mehr mitspielen zu müssen und zugleich unsterblich zu werden. Yossarian ist nun 68 Jahre alt, wohlhabend, hat vier Kinder und steht kurz vor der zweiten Scheidung. Er ist ein ewig pubertierender Frauenheld, der außer Sex seinem Leben nur wenig Vergnügliches abgewinnen kann. Ansonsten scheint nach dem Krieg nichts wirklich Wichtiges mehr passiert zu sein. Das gilt auch für die beiden Freunde Sammy Singer und Lew Rubinowitz, die Heller Yossarian zur Seite stellt und die viel autobiographisches Material des Autors aufgeladen bekommen, Kriegserinnerungen vor allem. Sammy war mit Yossarian bei der Luftwaffe; Lew berichtet von seiner Zeit als Kriegsgefangener in Dresden, wo er nach dem Untergang der Stadt im Bombenhagel sogar ein bißchen Mitleid mit den Deutschen empfand und einen großgewachsenen Typen kennenlernte, der „Vonnegut hieß und später Bücher schrieb“. Alle drei sind wie Heller selbst Juden aus Coney Island. Die Beschreibung der Welt ihrer Jugend am New Yorker Stadtrand mit seinem Vergnügungspark gehört zu den poetischsten und authentischsten Abschnitten dieses überbordenden Romanpatchworks. Sammy erinnert sich gar an einen gewissen „Joey Heller“, aus dem ein berühmter Schriftsteller geworden sei. Solche kleinen Späßchen im Spiel mit Fiktion und Realität gönnt Heller sich gelegentlich gern.

So sehr die drei Freunde mit und in ihren Erinnerungen leben, so illusionslos betrachten sie die Gegenwart. Yossarian „spielt mit großen Gedanken herum wie ein tagträumender Jugendlicher mit seinen Genitalien“: „Wieder war ein Öltanker auseinandergebrochen. Strahlung. Abfallhalden. Pestizide, Giftmüll und freie Marktwirtschaft. Es gab Abtreibungsgegner, die die Todesstrafe für jeden forderten, der sich nicht für das werdende Leben einsetzte ... Bald würde man menschliche Embryonen zum Verkauf, zum Vergnügen und zum Bezug von Einzelteilen klonen. Es gab Leute, die machten Millionen, ohne etwas Konkretes zu produzieren als kleine Verschiebungen in den Eigentumsverhältnissen. Nichts ergab einen Sinn und alles andere auch nicht.“

Die Welt ist rettungslos kaputt, die Gesellschaft korrupt, und vom amerikanischen Traum ist nur gnadenlose Selbstsüchtigkeit und der Wille zur Bereicherung geblieben. Yossarian weiß das wohl, aber Erkenntnis – und darin ist er ein ebenso typischer Heller-Held wie Prototyp der geschmeidigen „Endzeit“ der neunziger Jahre – fordert nicht mehr zu Veränderungen heraus, sondern rechtfertigt bloß noch den eigenen Zynismus und das Mitläufertum. Aus dem Anarchisten von „Catch-22“ ist 30 Jahre später ein Profiteur des Betriebs geworden, dessen Zynismus nur noch als Schmiermittel funktioniert, um die Widersprüche, mit denen er lebt, aushalten zu können. Als Consulting-Experte und PR-Manager hat er einen hochdotierten Beratervertrag beim M&M-Imperium des Milo Minderbinder, jener bereits aus „Catch-22“ bekannten Verkörperung der skrupellosen Seele des Kapitalismus. Ihm vermittelt er Kontakte nach Washington zu den Waffenlobbyisten und Rüstungsexperten und hilft beim Verkauf des „Infrasupersonischen Unsichtbaren und Geräuschlosen Verteidigungszweitschlagsangriffsbombers“, der so geheim und so unsichtbar ist, daß noch nicht einmal die, die ihn bauen, wissen, wie er aussieht, ja, ob er überhaupt existiert. Die Verkaufsgespräche sind eine witzige Satire auf den militärisch-industriellen Komplex, skurrile, zirkuläre Dialoge, die die völlige Ziel- und Planlosigkeit der Pentagon-Obristen bloßstellen.

Ein zweiter Auftrag Yossarians besteht darin, den Port Authority Bus Terminal in New York, normalerweise Umschlagplatz für Drogen, Nachtlager für Obdachlose und Arbeitsplatz von Taschendieben, Killern und anderen Ganoven, zur Bühne einer Superreichen-Hochzeit umzufunktionieren. Dieser Erzählstrang fungiert als Zentrum des Romangeschehens, von dem aus die in viele Bruchstücke auseianderfallenden Teile notdürftig zusammengehalten werden. Zum Fest kommt es zwar wg. Apokalypse nicht mehr, doch als Computersimulation dürfen wir es zuvor schon erleben: 4.000 Pfund Kaviar für die 3.500 engsten Freunde werden herbeigeschafft; die Bettler, die gewöhnlich das Gebäude bevölkern, werden durch gutaussehende und handverlesene College-Absolventen im Bettel-Look ersetzt; auch der Dieselgeruch im Busbahnhof geht als wunderbar gelungene Simulation von Wirklichkeit durch. Das Brautpaar schreitet zu Wagner- Klängen zum Altar und tanzt zu Musik aus der „Götterdämmerung“. Nach dem Fest ruft ein Sprecher der Obdachlosen: „Das war die Art von Veranstaltung, die einen mit Stolz erfüllt, in New York obdachlos zu sein.“ Aber auch er ist nur ein verkleideter Sprecher einer Public-Relations- Firma.

Unter dem Busbahnhof – und hier kippt die „Endzeit“ endgültig ins Surreale – hat Heller eine danteske Unterwelt installiert. Hier befindet sich rätselhafterweise der vergangene und versunkene Vergnügungspark von Coney Island mitsamt der berühmten hölzernen Achterbahn, den alten Karussells und Schießbuden. Hier herrscht der einstige Vergnügungsunternehmer und Parkgründer George C. Tilyou als seltsamer Fürst der Finsternis. Hier münden die Bunkergänge der Mächtigen, die sich für die Zeit nach der atomaren Katastrophe unterirdische Golfplätze und Speiseeisfabriken von Ben & Jerry's angelegt haben. Elektronische Höllenhunde bewachen den Eingang zu diesem neuzeitlichen Hades, in dem sich Lebende und Tote treffen, wo J.F. Kennedy zusammen mit anderen Präsidenten in offenen Waggons durch die Gegend fährt.

Der Roman allerdings verliert mit dem realistischen Charakter rapide an Aggressivität. Was Gesellschaftskritik sein soll, wird zum Fantasy-Klamauk verdünnt. Und umgekehrt: Was surreales Totenbuch sein könnte, geht in der Satire unter. Auch die Apokalypse schafft es dann nur noch zum Witzchen. Der Präsident nämlich, den alle nur den „kleinen Wichser“ nennen und der von nichts eine Ahnung hat, verbringt seine Zeit süchtig vor Videospielen in seinem Amtszimmer, und da ist eben auch der berühmte rote Knopf. Als der Alarm ertönt und die Lämpchen auf seinen Armaturen wie wild blinken, freut er sich bloß, endlich einmal etwas in Gang gesetzt zu haben. Die Apokalypse, ein Videospiel: Das ist natürlich ein übles Klischee, als Roman-Plot ziemlich dünn. Aber vielleicht ist diese Schwäche weniger Jospeh Heller anzulasten als dieser „Endzeit“, die schon zu viele Weltuntergänge überlebt hat, als daß sie noch anders denn als Klischee vorstellbar wäre. Wir wissen längst, daß es hinterher doch immer irgendwie weitergeht, und so ist auch Hellers „Endzeit“ der neunziger Jahre eher die Schilderung eines diffusen Geisteszustands als ein fulminanter Schlußakkord.

Joseph Heller: „Endzeit“. Roman. Aus dem Amerikanischen von Joachim Kalka, S. Fischer Verlag, Frankfurt/M. 1994, 608 Seiten, gebunden, 48 DM.