„Die Politik nutzt jeden Trick“

Per Regierungsvertrag wurden sie einst in die DDR geholt; nun sollen die vietnamesichen Vertragsarbeiter als „Illegale“ abgeschoben werden.  ■ Aus Seifhennersdorf Detlef Krell

Vier heruntergekommene Betonwohnblocks am Rande der Stadt, die einzigen in Seifhennersdorf. An den Eingangstüren steht immer noch: „Wohnheim der SRV“, der Sozialistischen Republik Vietnam. Über 300 vietnamesische Arbeitskräfte wohnten hier, „Vertragsarbeiter“ der volkseigenen Schuhfabrik in dieser ostsächsischen Kleinstadt. Drei Blocks stehen seit Jahren leer, im letzten haben sich noch etwa dreißig VietnamesInnen ihre Wohnungen eingerichtet.

Auf den eiskalten Gängen des dreistöckigen Hauses liegt Spielzeug herum, kleine Kinder und ein vorlauter Kläffer toben zwischen den Zimmern.

H. wohnt hier mit seiner Ehefrau und dem einjährigen Sohn. Beide waren 1987 in die Deutsche Demokratische Republik gekommen, er arbeitet in der Schuhfabrik, sie hat in der Textilbranche eine Anstellung gefunden. H. hat die Zeitung aufgeschlagen und liest die Nachricht von der bevorstehenden Abschiebung der „40.000 illegal in Deutschland lebenden Vietnamesen“. Leise sagt er: „Das wird schlimm für uns.“ Die kleine Familie hätte die Bundesrepublik schon lange verlassen müssen.

Der Mann war im September 1990, nach drei Jahren Arbeit in der Seifhennersdorfer Schuhfabrik, wie es im Amtsdeutsch heißt, „aus dem Regierungsabkommen ausgetreten“; er hatte sich selbst eine andere Arbeit gesucht. Der neue Arbeitsvertrag war auf zunächst ein Jahr befristet, bis zum Ablauf der Arbeitserlaubnis. Am 12. 6. 1991 wurde die Aufenthaltsgenehmigung der DDR „umgewandelt“ in eine Aufenthaltsbewilligung der Bundesrepublik, gültig bis 30. 9. 1992. Ab Anfang Oktober lief sein Aufenthalt nur noch unter dem Begriff „Duldung“, seine Arbeit muß er wegen dieser unsicheren Rechtslage leider aufgeben.

Doch H. gab nicht auf. Ende Juli 1993 beantragte er eine „Aufenthaltsbefugnis“. Bis zum 15. Oktober mußte er warten, dann erhielt er die Absage des Dresdner Regierungspräsidiums. Darauf reagierte er umgehend mit einer Klage vor dem Verwaltungsgericht Dresden.

Im Dezember 1993 heiratete er, der Sohn wurde geboren. Im April vergangenen Jahres fand er Arbeit in einem vietnamesischen Restaurant. Da hatte er bereits die Mitteilung des Gerichts in der Tasche, daß seine Klage ohne mündliche Verhandlung entschieden werde, wenn er nicht innerhalb von zehn Tagen Einspruch erhebe. H. versäumte diese Frist. Kurz danach flatterte der Gerichtsbescheid auf den Tisch: Seine Klage wurde abgewiesen.

Ähnlich erging es seiner Frau. Ihr Antrag auf Aufenthaltsbefugnis wurde abgelehnt, weil der Verdienst des Mannes nicht ausreiche. Es fehlten lediglich 60 Mark bis zu dem für vietnamesische VertragsarbeiterInnen vorgeschriebenen, am bundesdeutschen Sozialhilfesatz orientierten Mindesteinkommen. Inzwischen ist das Vietnam- Restaurant pleite gegangen, der Inhaber hat sich aus dem Staub gemacht. Seit drei Monaten verdient die Familie keinen Pfennig Geld. H. ist dennoch zuversichtlich wieder Arbeit zu finden, etwa in einem Restaurant oder mit einem eigenen Verkaufsstand. Wenn sie nur hierbleiben dürften. „In Vietnam habe ich überhaupt keine Aussicht auf Arbeit“, da ist sich der Mann sicher.

Anderen VietnamesInnen in der Betonbaracke geht es etwas besser, sie haben ihre kleinen Marktstände. Doch auch sie gelten plötzlich als „Illegale“. Sie alle sollen aufgrund des neuen Regierungsvertrags zwischen Bonn und Hanoi nach Vietnam abgeschoben werden.

T. führt sein Reisegewerbe seit neun Monaten, er verkauft Textilien und Geschenkartikel und kann über seine deutschen KundInnen nur Gutes berichten. „Da gibt es gar keine Probleme. Ich habe schon Stammkunden, und das Geld reicht für das Nötigste.“

Im August 1993 beantragte er eine Aufenthaltsgenehmigung. Monatelang wartete er auf Antwort. Als er sie endlich in den Händen hielt, begriff er mit einem Schlag die deutschen Gesetze. Sein Antrag wurde abgelehnt mit der Begründung, er habe einen Eintrag im Strafregister. Was war vorgefallen? T. war im April 1992 ohne Führerschein gefahren. Ein Papier hatte er zwar in der Tasche, die vietnamesische Fahrerlaubnis. Aber die gilt hier nicht. Also mußte er zehn Tagessätze zahlen, und T. meinte, damit wäre sein Vergehen ausgestanden.

B. legt sein polizeiliches Führungszeugnis auf den Tisch: Kein Eintrag. Er ist verheiratet, hat eine knapp dreijährige Tochter. Die Familie lebt seit über einem Jahr von seinem Reisegewerbe. „Es reicht für uns“, umschreibt er zurückhaltend die finanzielle Lage. Doch seine Standgenehmigung ist abgelaufen, und eine Verlängerung bekommt er natürlich nicht. Die zuständige Ausländerbehörde läßt sich mächtig Zeit, seinen Antrag auf Aufenthaltsbefugnis zu bearbeiten. Seit einem vollen Jahr wartet er bereits, vergebens. „Unsere Tochter hat ihre Großeltern in Vietnam noch nicht gesehen, ich war seit fünf Jahren nicht zu Hause. Ohne Aufenthaltserlaubnis für Deutschland dürfte ich nicht mehr zurück.“ In Deutschland würde er leben wollen, hier hätte er ein Auskommen. „Aber in Vietnam geht es zu schwer. Meine Eltern sind beide arbeitslos.“

Mindestens 20.000 Mark Anfangskapital kosten die Verkaufsstände, mit denen viele VietnamesInnen über die Märkte ziehen und sich ihren Unterhalt verdienen. „Alles, was ich erspart habe, steckt da drin“, erklärt B. Wie seine Kollegen läßt auch er nichts auf seine deutschen KundInnen kommen. Bis auf Ausnahmen sind die VietnamesInnen bei ihren deutschen NachbarInnen anerkannt. In Sachsen, wo schon kaum noch AusländerInnen leben, sind sie längst keine Fremden mehr. Doch was in dem alten Bundesländern Alltag ist, soll im Osten offenbar verhindert werden. Eine Anerkennung wie die sogenannten Gastarbeiter in der alten Bundesrepublik bleibt den einstigen Gastarbeitern der DDR verwehrt.

Die Ausländerbeauftragten und Initiativen Ostsachsens hatten sich im Dezember getroffen, um die Situation dieser Menschen zu analysieren. Doch ihr Alarmruf blieb ungehört: „Die Vielzahl von Härtefällen legt den Schluß nahe, daß es sich nicht mehr um eine humanitäre Bleiberechtsregelung handelt.“

Aufenthaltsbefugnisse, die eben noch keine „Erlaubnis“ sind, werden oft auf vier Monate beschränkt, die Bearbeitung der Anträge dauert bis zu acht Monaten. Keine Befugnis – keine Arbeit – keine Befugnis – ..., das ist der Teufelskreis dieser „humanitären Bleiberechtsregelung“. Ehemalige VertragsarbeiterInnen, so die Forderung der Ausländerbeauftragten, „die mittlerweile ein gesichertes Einkommen haben“, sollten „mit langfristiger Perspektive nicht unter die Ausreisepflicht fallen“.

Claudia Hüttig, Mitarbeiterin im Multikulturellen Zentrum Zittau, mußte eine besondere Note sächsischer Politik feststellen: „Es sind vor allem die sozial Schwachen, die keine Chance haben, die Bedingungen für eine Aufenthaltserlaubnis zu erfüllen.“

Eine junge Frau konnte ihr Arbeitsverhältnis nicht, wie gesetzlich vorgeschrieben, bis zum 17. 4. 94 antreten, da ihr zweites Kind noch „nicht krippenfähig“ war. Die Vietnamesin arbeitet seit Juni 1994. Dieses „Fristversäumnis“ wird ihr nun angelastet, sie soll ausreisen.

„Was hat Deutschland noch alles vor?“ fragt Nabil Yacoub, Sprecher des Ausländerrates in Dresden. Die Asylzahlen tendieren seit der neugeregelten Gesetzeslage gegen Null, selbst die Kurden sollen früher oder später ausgewiesen werden, die Kroaten, die Kosovo- Albaner, und nun plötzlich die Vietnamesen. „1995 wird das Jahr der Abschiebungen“, befürchtet Yacoub. „Für die Vietnamesen ist es das Jahr des Schweines. Aber sie haben kein Glück.“

Auch in der sächsischen Landeshauptstadt wird, elegant vom Schreibtisch aus, die Kriminalisierung der Vietnamesen betrieben. Die „Nutzungsgebühr“ für ein Wohnheimzimmer soll von derzeit 360 Mark pro Person und Monat erhöht werden auf 480 Mark. Ein Witz: Damit müßte ein Ehepaar mit Kind müßte dann monatlich 1.440 Mark hinlegen und zudem das gesetzlich geforderte Mindesteinkommen nachweisen. Noch hat das Stadtparlament nicht darüber entschieden. Die HeimbewohnerInnen hätten keine Chance mehr, ihre Aufenthaltsbefugnis verlängern zu lassen. Etwa 350 Ausländer, die Mehrzahl VietnamesInnen, warten in diesen Tagen vergebens auf eine neue Standgenehmigung für ihr Reisegewerbe. Im Dresdner Rathaus gab es einen Bestechungsskandal, seitdem liegen diese Papiere auf Eis.

„Die Politik bedient sich aller möglichen Tricks, um diese Menschen in die Illegalität zu treiben“, stellt Nabil Yacoub fest. Wer von „40.000 illegal in Deutschland lebenden Vietnamesen spreche, der kriminalisiere Menschen, die auf vertraglicher Grundlage in dieses Land geholt wurden und die man jetzt einfach loswerden wolle. Die von Bonn in Aussicht gestellte Finanzhilfe empfinden die VietnamesInnen als üblen Deal: „Keinen Pfennig werden die Heimkehrer davon sehen“, befürchtet Nguyen Thi Bach Sa vom Dresdner Verein für soziale Integration von Ausländern. „Und wenn doch – das ist keine Lebensgrundlage. Vietnam hat 25 Prozent Arbeitlose.“

Manche bekommen sogar schwarz auf weiß mitgeteilt, daß sie als Kriminelle hier nichts verloren haben.

Y. lebt in einem Dorf bei Dresden. Er war mit seinem Auto unterwegs, vor zwei Jahren, als ihm das Mißgeschick passierte. Y. fuhr in einen Gartenzaun hinein. Er hatte es eilig, und der Besitzer war gar nicht zu Hause. Also fuhr der Vietnamese weiter. Am Abend kehrte er zum Zaun zurück. Der Geschädigte hatte inzwischen Anzeige erstattet, doch die beiden wurden sich einig. Y. zahlte 500 Mark, der Besitzer des Zaunes erklärte schriftlich: „Weitere Forderungen habe ich nicht.“ Leider vergaß er, die Anzeige zurückzuziehen.

Y. verreiste über fünf Wochen nach Vietnam. Unterdessen eröffnete die Staatsanwaltschaft Dresden ein Bußgeldverfahren gegen ihn, Zahlungen wurden fällig, Mahnungen folgten, Y. in Vietnam ahnte von allem nichts. Als er zurückkehrte, fand er einen Brief vor. Die Ausländerbehörde beim Landratsamt Dresden lud ihn zu einer Anhörung vor.

Die Beamten teilten ihm mit, daß sein Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltsbefugnis „in Form einer Ablehnung“ entschieden wurde. Ihre Begründung, nachzulesen im Protokoll, kleidete die Behörde in eine Frage: „Ist Ihnen bewußt, daß sie eine schwerwiegende Straftat begangen haben, die Sie nicht mehr berechtigt, ständig in der Bundesrepublik Deutschland zu leben?“

(Die Namen aller mit VietnamesInnen, deren Name abgekürzt wurden, sind dem Autor bekannt)