■ Nebensachen aus Bukarest
: „Seien wir zivilisiert!“

Die Bukarester und Bukaresterinnen haben ein Lieblingswort: zivilisiert. Wenn es kein Brot gibt, wenn der Bus sich verspätet oder ständig liegenbleibt, der Müll wochenlang nicht abtransportiert wird, Strom und Wasser rationiert werden, schreien sie erbost: Können wir nicht zivilisiert sein? Oder wenn andere schreien: Können wir nicht zivilisiert reden? Oder wenn auf Behörden chaotisches Gedränge herrscht und einer den anderen wegschubst, um der erste zu sein: Können Sie nicht zivilisiert anstehen? „Seien wir zivilisiert!“ – ist das meistgebrauchte Schlagwort in der rumänischen Hauptstadt.

Restaurants annoncieren in ihrer Werbung „zivilisierte Atmosphäre“. Oder bitten in Aufschriften am Eingang um „zivilisierte Kleidung“. Ein junger Mann will aus dem Bus aussteigen, und wie üblich drängen die an der Station Wartenden rücksichtslos herein. Der Mann wird wütend. „Können wir nicht mal zivilisiert aussteigen?“

Das Fernsehen zeigt in den Abendnachrichten die Inbetriebnahme von neuen Anrufannahmestationen bei der Bukarester Telefonauskunft. Der Berichterstatter sagt, die Telefonistinnen seien nun endlich in der Lage, unter zivilisierten Bedingungen zu arbeiten.

In einer anderen Fernsehsendung geht es um Glatteis und Schneemassen auf Bukarester Straßen, die niemand wegräumt. Der Kommentator nennt eine Statistik, laut der die Zahl von Arm- und Beinbrüchen seit einiger Zeit drastisch steigt, und schlußfolgert: „In keiner europäischen Hauptstadt herrschen solche unzivilisierten Zustände.“

Eine Zeitung druckt eine Fotoreportage über den allgegenwärtigen Müll, über Straßenhunde und Ratten in Bukarest und fragt in der Überschrift: „Somalia oder europäische Zivilisation?“

Ein Architekt, gerade von einem Besuch aus Wien zurückgekehrt, preist die Sauberkeit der österreichischen Hauptstadt, Bukarest hingegen sei eine einzige große Mülltonne. Er schlägt eine riesige Aufräum- und Reinemachaktion für die Hauptstadt vor. „Unsere Zivilisierung“, meint er, „ist ein genauso wichtiges Zeichen wie Demokratisierung und Privatisierung.“ Deshalb will er die Bürgermeisterei bitten, mit dem Großreinemachen in die „zivilisierte Welt zurückzukehren“.

Ein Abgeordneter ereifert sich über „allerlei obskure Zigeuner“, die an Straßen mit allen möglichen Waren Handel treiben: „Kein Wunder, daß wir im Westen für unzivilisiert gehalten werden und hier niemand investieren will!“

Auf dem Bukarester Nordbahnhof schwärmt eine Frau von den im vergangenen Herbst eingeführten Intercity-Zügen. Von sauberen Waggons, von geheizten Abteilen, von Toilettenpapier auf Aborten, von automatischen Türen und von der Tafel Schokolade, die im Fahrpreis enthalten ist. Sogar die Haltebahnhöfe würden angesagt. „Wie zivilisiert dieser Intercity ist!“

Die zweitgrößte Tageszeitung des Landes, RomÛnia libera (Freies Rumänien), übertitelt einen Artikel zum Thema Eisenbahnen: „Die Intercity-Züge beginnen, jammervoll auszusehen – verweigern wir uns etwa der Zivilisation?“ Der Artikel berichtet über Vandalismus und Diebstahl von Spiegeln, Kleiderhaken und Leselampen in den Zügen. Zwei Zugbeamte rufen die Reisenden zur Mithilfe gegen das Rowdytum auf: „Die zivilisierten Reisenden dürfen nicht gleichgültig gegenüber den primitiven Unsitten bleiben, die vor allem Studenten vom afrikanischen Kontinent begehen, die bei uns lernen.“ Keno Verseck