Die Sucht nach Sündenböcken

Schlummern in uns noch archaische Elemente? Woher kommt die Gewalt, die den zivilen Frieden bedroht? Der französische Kulturtheoretiker René Girard zu Ritualgemeinschaften in der liberalen Gesellschaft  ■ Von Reginald Grünenberg

Die Zunahme der Gewalt in Deutschland seit der Vereinigung läßt den zivilen Frieden der vergangenen Jahrzehnte als rätselhaft erscheinen. Das eigentliche Mysterium liegt aber im Ursprung der Gewalt selbst. Kein Zweifel, daß ihre Konjunktur in der sozialen Deklassierung und Verarmung der Unterschichten sowie in der Auflösung traditioneller Bindungen solide Stützen hat. Aber selbst alle schlechten Bedingungen zusammengenommen geben höchstens eine Einsicht in die Latenz der Gewalt. Sie ist als emotionales, politisches und soziales Vakuum vorbereitet. Was aber fehlt, das sind Erkenntnisse über die Entstehung der Gewalt selbst, ihre Schubkraft, ihr „In die Welt Treten“. Soziobiologische Theorien machen in den Menschen wirkende Naturgesetzlichkeiten verantwortlich für die Gewalt. Eines ihrer Stereotype ist der angeblich gesetzmäßige Zusammenhang von Bewegungsraum und Aggression. Nur können sie dann nicht erklären, warum Gewalt nicht viel stärker das Dasein beherrscht und wie Vergesellschaftung überhaupt möglich geworden ist. Die Natur hat's nicht gerichtet, denn sonst wäre Kultur nie entstanden.

Wenn nun aber die Anwendung von Gewalt mit einer Art kollektiver Erinnerung zusammenhinge, derjenigen nämlich, daß Gewalt irgendwann einmal in der Geschichte der Menschheit tatsächlich Probleme gelöst hat? Wenn bis in unsere Tage ein Wissen überliefert ist, daß der Mord eine schöpferische, gemeinschafts- und ordnungsstiftende Tat sein könnte? Es bietet sich an, die hier wenig beachtete Theorie der Gewalt von René Girard anzuwenden. Da das gesicherte Wissen über die neue Form der Gewalt noch dürftig ist, sind Spekulationen nicht nur erlaubt, sondern dringend notwendig.

René Girard, Professor für französische Literatur an der Universität Stanford/USA, hat 1972 in „La violence et le sacré“ versucht zu zeigen, daß der Ursprung aller menschlichen Kultur in dem gemeinschaftlich getöteten Menschenopfer liegt. Girard löst Freuds These vom Vatermord aus der familialen Intimität und plaziert sie im öffentlichen Raum. Wenn in der archaischen Welt die Ernte ausblieb, kein Wild mehr erlegt werden konnte, Seuchen ausbrachen oder die betroffene Gemeinschaft vor der Eroberung durch Feinde stand, richteten sich der Haß und der Neid der Mitglieder der Gemeinschaft aufeinander. Ein Opfer wurde notwendig, um die alte Ordnung und Harmonie der Welt wiederherzustellen. Sofern in der Gemeinschaft kein Fremder zu finden war, den man zum schlachtreifen Sündenbock machen konnte, wurde ein Mitglied der Gemeinschaft selbst in einen Fremden verwandelt. Er sollte die unkontrollierte Gewalt auf sich ziehen, damit die Gemeinschaft sich nicht selbst zerstört.

Allerdings schloß die Prozedur im Laufe der Kulturgeschichte immer deutlicher eine dem Ritual vorausgehende Verehrung des Opfers ein. Dem oder der Auserwählten wurden dann oft unglaubliche Freiheiten und Privilegien bis zu den schlimmsten Tabubrüchen (Inzest, Mord) eingeräumt – aber nur, um die Anklage und den Haß danach als „gerecht“ erscheinen zu lassen. Die mythischen Geschichtszeugnisse berichten stereotyp von den Verbrechen der Opfer und dem Zorn der Götter, um den gemeinschaftlichen Mord zu rechtfertigen. Sie versuchen zu verschweigen, daß die Opfer unschuldig sind und die Gewalt nichts als Menschenwerk ist.

Girards Kulturtheorie postuliert einen tiefen Einschnitt, der darin besteht, daß die jüdisch- christliche Glaubensbewegung eine Ablösung der archaischen Kultur eingeläutet hat. Das Programm dieser Zeitenwende ist ein Imperativ, so einfach wie überhaupt nur denkbar: Beendet den kollektiven Mord! Rehabilitiert die Opfer! Tötet nicht! Girard hat das in späteren Büchern mittels einer extensiven und dramatischen Bibelauslegung untermauert. Botho Strauß ist diese Seite der Kulturtheorie Girards in seinem berüchtigten Spiegel-Essay „Anschwellender Bocksgesang“ entgangen. Strauß hat „Das Heilige und die Gewalt“ schon für die ganze Theorie gehalten. So ließ er sich faszinieren von einer vermeintlich immer noch funktionierenden Verehrung und Sakralisierung der Fremden vor ihrer Opferung. Zu wenig gelesen, zu heftig phantasiert.

Das Opfer ist der Schlüssel zum Verständnis einer Kulturform, die mitten in der Moderne wieder bedrohlich aus den Tiefen der archaischen Geschichte steigt. Mit Hilfe der Ritualform polarisiert es und stiftet Identität: Auf der Seite der Täter, die als Gruppe die latente oder oft schon manifeste wechselseitige Gewalt ihrer Mitglieder ableitet, sich stabilisiert und ihre Grenzen fester zieht. Auf der Seite der Gegner der Gewalt gegen das Opfer findet ebenfalls die Bildung einer besonderen Gesellschaftsform statt, die sich durch einen großen Kult selbst findet: Betroffenheit, Empörung und Wut durch Identifikation mit den Opfern. Damit ist aber die archaische Funktion des Opfers schon überschritten, denn diese Art der Vergesellschaftung auf der Opferseite ist allein charakteristisch für moderne Gesellschaften. (Wer hätte sich im 16. Jahrhundert mit einer „Hexe“ solidarisiert? Sogar einige bedeutende Denker der späteren Aufklärung schafften das nicht.)

Der lockere Zusammenhang dieser Gesellschaft, die man die „liberale Gesellschaft“ nennen könnte, ist durch die modernen Medien möglich geworden und führt gelegentlich zu einer Konzentration der ihr zugehörigen Menschen in Demonstrationen. Dieser Betroffenheitskult ist seit den Lichterketten viel gescholten und verspottet worden. Dabei ist er die einzige Ressource für eine politische und kulturelle Auseinandersetzung mit der zivilen Gewalt. Das wird vielleicht erst dann klar, wenn man bedenkt, daß in anderen kulturellen Kontexten diese Betroffenheit überhaupt nicht stattfindet und gar nicht sinnvoll stattfinden könnte. Die Matrize, auf der die Sinnlosigkeit, die Ungerechtigkeit und die Verschlechterung der Welt durch die gemeinsinnige Gewalt der Vielen gegen das Opfer überhaupt beklagt und bekämpft werden kann, ist die jüdisch-christliche Tradition moralischen Empfindens. Und wer sich hier kulturkritisch betätigt, indem er die Anteilnahme der Bevölkerung als Beruhigung eines schlechten Gewissens abqualifiziert, der sägt an dem Ast, auf dem die Opfer von morgen schon sitzen.

Die Liberalen sollten ihre Worte nicht dazu einsetzen, ihre eigenen Sympathisanten zu zensieren, zu verschrecken und in Lager zu spalten. Das erfordert allerdings einen gewissen Sinn für die Unwahrscheinlichkeit und Fragilität dieses Kultes des Betroffenseins, ohne physisch betroffen zu sein. Wenn diese Formen des Mitgefühls einmal erschöpft sein sollten, dann stehen uns noch genau zwei Wege offen: entweder totale Gleichgültigkeit angesichts regelmäßiger, ritualisierter Gewalt oder totaler Staat unter dem Primat der inneren Sicherheit. An diesem Scheideweg stehen Städte wie Los Angeles und New York.

Die Unterscheidung Täter/Gegner bezeichnet kein Zwei-, sondern ein Drei-Gruppen-Schema der Gesellschaft. Vor allem die erste Gruppe vorpolitisch-gewalttätiger Jugendlicher zeigt alle Symptome ritualbedürftiger Gemeinschaften. Ihre Mitglieder können nicht mehr in Hierarchien gut geordnet handeln und existieren. Der soldatische Charakter ist erschöpft oder sogar ganz verschwunden. Das ist ein technisches Problem für die rechten Polit-Agitatoren, die in dieser Gruppe militante Parteisoldaten rekrutieren wollen. Die jungen Männer vieler gewalttätiger Cliquen haben keine zuverlässigen Führer und sind sich selbst die Nächsten. Sie sind Radikalegoisten und -individualisten. Ihre Assoziation mit anderen, die uns äußerlich als ihre „Gleichgesinnten“ erscheinen, ist immer riskant und im höchsten Maße instabil. Die Bindungen sind außerordentlich unpersönlich. Die Leitfiguren der jeweiligen Gruppen sind in ihrem Rang zu jeder Zeit durch dieselbe physische Gewalt bedroht, durch die sie zu diesem Rang gekommen sind. Aber gerade diese schlechte Ausprägung der affektiven oder autoritären Bindungen bringt es mit sich, daß diese Gemeinschaften randvoll sind mit vagabundierender Gewalt eines jeden gegen jeden anderen. Sie sind „entdifferenzierte“ Gemeinschaften. Ihr blinder Opferhunger ist verbunden mit der Hoffnung auf eine neue Ordnung. Das heißt auch, daß diese Gruppen überhaupt nicht über die Regeln verfügen, denen sie in ihrem kollektiven Verhalten unterliegen.

Dann gibt es die ebenfalls stark kultisch denkenden und handelnden Gemeinden der Rechtsradikalen, die aber Gewalt selektiv einsetzen wollen für politische Ziele. Auch sie sind ihr zwar unweigerlich verbunden, aber sie können über ihre eigene Gewalttätigkeit bereits reflektieren. Schließlich sind diese beiden Gruppen eingebettet in der liberalen Gesellschaft, die sie aus unterschiedlichen Gründen bekämpfen. Die „Gewalttätigen“ und die sich parasitär zu ihnen verhaltenden „Politischen“ sind zusammengenommen Ritualgemeinschaften von besonderer Gefährlichkeit, denn sie versuchen, hohe Gewaltbereitschaft mit überlegter Steuerung zu kombinieren – was selbst unter den anfangs genannten Bedingungen zum Glück noch extrem schwierig ist.

Die strategische Frage lautet: Wie soll die liberale Gesellschaft mit ihren neuen Feinden umgehen und ihre Hegemonie bewahren, ohne ihre eigenen Werte zu verraten? Sie kann, anders als manche Reportagen oder hastige politische Aktionen es glauben machen, differenziert auf die Herausforderung reagieren. Sie kann auf der einen Seite weiter Ursachenforschung betreiben und versuchen, politische/wirtschaftliche/soziale Mittel zur Bekämpfung dieser Ursachen zu entwerfen und zu erwirken. Auf der anderen Seite kann sie in die Konfrontation mit Waffen gehen, die ihr sonst fremd sind und eher der Gewaltkultur selbst zugeschrieben werden.

In der medial vermittelten, in der „großen“ Öffentlichkeit ist die Auseinandersetzung mit den Ritualgemeinschaften für die liberale Gesellschaft vermutlich nur mit den Mitteln dieses Rituals selbst erfolgreich durchzuführen. Das Publikum der Gewaltgegner ist nicht übermenschlich; es muß seinen eigenen Zusammenhalt gegen die Logik der archaischen Gewalt auch irgendwie erleben und inszeniert sehen. Die liberalen Bürger der medialen Öffentlichkeit wollen ihrerseits ein Opfer sehen, sagen wir: einen sprachlosen, blamierten Agitator, sei es ein Republikaner, Wehrsportgruppen-Führer oder rechter Skinhead – statt souveräner Vorzeigenazis, die Politiker, Journalisten und Dokumentarfilmer an der Nase rumführen. Diesem Opfer soll auf gewisse Art ebenfalls eine gemeinsinnige, kollektive Gewalt angetan werden. Der fundamentale Unterschied liegt aber in dem Medium dieser Gewalt. Die Gewalt, die erhofft wird, ist unblutig, maßvoll und trifft vor allem niemanden, der sich nicht provokativ dieser Gefahr ausgesetzt hat. Diese Gewalt ist verbal, das gesprochene oder geschriebene Wort ist die Waffe. Sie ist somit gewissermaßen simuliert. Sie ist virtuell. Sie ist der Konfliktmechanismus einer höheren Kultur. Diese liberale Kultur, die den habeas corpus, die körperliche Unverletzlichkeit und Unversehrtheit, anerkennt, muß ihren eigenen archaischen Ursprung erinnern. Nur so kann sie das primitive Denken und Handeln überwältigen, das auch heute noch seine Kräfte aus den alten Quellen bezieht.

Warum ist es wichtig, so sehr auf die Medienwirklichkeit einzugehen, wenn die physische Gewalt doch vor allem als psychisches oder soziales Problem erscheint? Heiner Geißler hat in einer brillanten Analyse der Thesen des Verhaltensforschers Irenäus Eibl-Eibesfeld dazu das Entscheidende geschrieben (SZ, Wochenendbeilage 10.7.1993). Er gestand zu, daß sich Menschen zu Primaten, zu Urmenschen zurückentwickeln können. Völliger Unsinn sei dagegen Eibl- Eibesfelds Annahme, daß diese Regression durch die primatische Anlage selbst bewirkt werde. Ein simples Reiz-Reaktionsschema entsprechend einer Allergie versteht die Logik des Sozialen nicht. Geißler zeigte, daß es vor allem die Art öffentlicher Kommunikation in den Medien ist, die archaische Handlungsweisen ermutigt. Das Versprechen der großen homogenen Einheit „Deutschland“ als Erlösung von allen Lasten des deprimierenden Lebens wird dann im kleinen erprobt.

Geißler hatte recht. Ohne dieses Zielversprechen hätten viele Gewaltpotentiale nicht in die Realität umgesetzt werden können. Verantwortliche Politiker haben damals in den Medien die Koordinaten der ersten Opfer durchgegeben. Jetzt, wo viele Ritualgemeinschaften bereits gebildet sind, gibt es bald nicht mehr genug wehrlose Ausländer, um die Sucht nach Sündenböcken zu stillen. Die Liberalen haben damals aus einer politischen Dummheit gehandelt, die rückblickend von den daraus folgenden Grausamkeiten nicht mehr zu unterscheiden ist. Die neue Form ritueller Gewalt profitiert von der Realität der Medien. Gewalt und Öffentlichkeit, das ist seit dem Terrorismus der Siebziger offensichtlich, sind für Demokratien immer noch eine unheimliche Allianz. Die liberale Gesellschaft lernt allerdings nur langsam, mit den neuen Kommunikationsformen gerade ihr eigenes Fortbestehen zu sichern. Die Liberalen sollten sich darin üben, solange die Medien noch ihnen gehören.

René Girard:

„Das Heilige und die Gewalt“. Fischer, Frankfurt/M. 1992, 484 S., 29,80 Mark („La violence et le sacré“. Paris 1972)

„Ausstoßung und Verfolgung. Eine historische Theorie des Sündenbocks“. Fischer, 1992, 303 S., 26,90 Mark („Le bouc émissaire“. Paris 1982)

„Hiob – Ein Weg aus der Gewalt“. Benziger, Zürich 1990, 214 S., 32 Mark („La route ancienne des hommes pervers“. Paris 1978)