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: Mehr Erinnerung wagen "Horizonte: Abgestempelt als 'Verfassungsfeind'"

„Horizonte: Abgestempelt als ,Verfassungsfeind‘“, Mo., 22.45 Uhr, N 3

Mehr Demokratie wagen, versprach der Kandidat im Wahlkampf und bekam den Zuschlag: 1969 wurde Willy Brandt Bundeskanzler. Er reiste gen Osten, handelte Verträge mit der UdSSR und Polen aus, es war die Zeit der Entspannungspolitik. 1971 erhielt er den Friedensnobelpreis. Aber offenbar hatten viele im Lande die Sache mit dem Mehr an Demokratie und der Versöhnung mit dem Osten falsch verstanden. Sie machten Rabatz, forderten Sozialismus (wenigstens ein bißchen), manche traten gar der DKP bei. Daß viele auch noch Beamte werden wollten, Lehrer gar, war zuviel.

Am 28.Januar 1972 erließen der Kanzler und die Ministerpräsidenten der Länder aus Sorge um die freiheitlich demokratische Grundordnung den Extremistenbeschluß, der den öffentlichen Dienst und die Beamtenschaft und damit das Volk vor den Radikalen im Land schützen sollte. 3,5 Millionen BundesbürgerInnen wurden überprüft. 126 wurden aus dem Staatsdienst entlassen, Tausende gar nicht erst eingestellt. 1976 bekannte Willy Brandt, daß der Erlaß ein Fehler gewesen war, aber die Maschinerie lief weiter.

In Hannelore Schäfers Film kommen einige zu Wort, die aus dem Schuldienst „entfernt“ wurden, und einige derer, die auf der Seite der Jäger standen. Fast alle sind sich heute einig: Der Radikalenerlaß war einer der größten Fehler in der bundesdeutschen Geschichte. Der Film erzählt von dieser Geschichte eben wie von einer Geschichte. Er menschelt schön. Fast kommt Nostalgie auf. Ja, damals. Hart war's, und gekämpft mußte werden um die Meinungsfreiheit. Und dann ist der Film zu Ende.

Wir erfahren nicht, ob die alte Methode, die sich in Sachen Ruhigstellung doch so gut bewährt hat, jederzeit wieder aus der Tasche gezogen werden kann. Oder ob sie heute gegen Rechtsradikale eingesetzt werden könnte und ob das überhaupt gut wäre. Und ob nicht das, was da zur Zeit im Osten des neuen Deutschland passiert, nicht genau das ist, was da gerade 45 Minuten lang als Fehler bedauert wurde.

Vielleicht hilft der Europäische Gerichtshof. Der wird Mitte Februar darüber urteilen, ob die BRD mit der Berufsverbotepraxis gegen die Menschenrechtskonvention verstoßen hat. Und vielleicht entscheidet er in 20 Jahren darüber, was heute jenseits des alten Mauerstreifens geschieht. Petra Oelker