„Lieber sollen meine Eltern tot sein“

Prozeßbeginn gegen sieben der 25 wegen Kindesmißbrauchs angeklagten WormserInnen: Die Angeklagten schweigen. Am Samstag starb die Großmutter im Gefängnis an einem Herzanfall  ■ Von Heide Platen

Da sitzen sie nun seit Ende November vor Gericht, seit Dezember 1993 in Untersuchungshaft und, nicht erst seither, hinter einer Mauer von Verbitterung, Abwehr und Verdrängung. Alle sieben Angeklagten sind sichtlich unfähig, die Schwere des Tatvorwurfs wahrzunehmen, verstecken sich hinter Albernheiten und enger Familienloyalität gegen die feindliche Außenwelt.

Dieser Prozeß vor der 3. Großen Strafkammer in Mainz heißt im Jargon der „Wormser Kinderschänderprozeß“. Angeklagt sind sieben Menschen aus einer Familie. Zwei weitere Verfahren in gleicher Sache gegen einen verfeindeten Familienclan und weitere Beteiligte mit insgesamt noch einmal 18 Angeklagten werden folgen. Ihnen allen wird vorgeworfen, 15 Kinder in den eigenen Wohnungen, im Schwimmbad, in Keller eines Lokals über Jahre hinweg mißbraucht zu haben.

Dieser erste Prozeß jedenfalls ist, mehr noch als andere in den letzten Jahren, ein undurchdringlicher Wirrwarr, unter dem die Wahrheitsfindung erstickt. Das muß wohl so sein, wenn der Verdacht gegen Erwachsene sich allein auf Aussagen von Kindern gründet, Ermittlungsbehörden keine anderen Beweise finden, medizinische Gutachten über die Spuren der Versehrheit des Genitalbereichs von Kindern umstritten sind und die Beschuldigten schweigen. Daß es nichts zu gestehen geben könnte, gebietet die Unschuldsvermutung in Strafprozessen. Parteilichkeit aber ist, wenn es um Vergewaltigung, sexuelle Mißhandlung von Kindern, zumal durch die eigenen Eltern, die Großmutter, Onkel und Tanten geht, eine nachvollziehbare Reaktion. Auch in Mainz wird das Gericht die mißliche Aufgabe haben, sich in schwieriger Beweislage nicht vom Gefühl leiten zu lassen und dennoch glauben zu müssen – entweder den bestreitenden Angeklagten oder den Kindern.

Die Emotionen um das Delikt Kindesmißbrauch sind in den letzten Jahren hochgeschlagen. Seit zu Beginn der 80er Jahre auch der Tatort Familie öffentlich diskutiert, ein weiteres Tabu gebrochen wurde, ist mit Dunkelziffern bis zu astronomischer Größe hochgerechnet und wieder heruntergezählt worden. Es fehlt, wie bei anderen Beziehungstaten auch, an Zeugen und geschieht dennoch. Einerseits machte die Debatte Außenstehenden Mut zum genaueren Hinsehen, zum Wahrnehmen von Not und Elend von gequälten Kindern, andererseits gab es Übereifer des Aufdeckens und durch Herausfragen und Weitererzählen ins Monströse anwachsende, ungerechtfertigte Beschuldigungen. Wo Gefühle, eigene Ängste und Verdrängungen stark angesprochen werden, kommen auch Aggressionen. Im Widerstreit der ExpertInnen, Selbsthilfegruppen und betroffenen Laien ist von moralischer Vernichtung bis zum körperlichen Angriff in den letzten drei Jahren nichts ausgelassen worden. Während die einen den Mißbrauch geißeln, wehren sich andererseits zu Unrecht Beschuldigte in Initiativen gegen den „Mißbrauch mit dem Mißbrauch“.

Den Gerichten helfen auch Gutachten kaum weiter, denn die sind so kontrovers wie die öffentliche Debatte. Da werden medizinische Gutachter – die behaupten, sie könnten aus der millimetergenau gemessenen Kontraktion des kindlichen Schließmuskels ablesen, ob das Kind zum Analverkehr mißbraucht worden sei – als „Polochgucker“ disqualifiziert. Während sich andere auf diesem Wissensgebiet um den Umfang der Ausdehnung, um Haarrisse im Darm und deren mögliche Ursachen zerstreiten. Da wird die Glaubwürdigkeit von Kinderaussagen gestützt oder in Zweifel gezogen. Was allerdings an Glaubwürdigkeit bleiben kann, wenn Kinder immer wieder, wie in diesem Fall, zehn, zwanzig, dreißig Mal, von Jugendamt, MitarbeiterInnen des Kinderschutzdienstes von „Wildwasser“, von Staatsanwaltschaft, Richtern, Heimleitern, GutachterInnen befragt, mit den Aussagen ihrer Geschwister, Cousins und Kusinen und dem Schicksal anderer mißbrauchter Kinder konfrontiert wurden, ist nur schwer nachzuvollziehen. Die Tendenz, Kindern im Zeitalter von Gewaltvideo und Horrorfilm nicht alles als eigenes Erleben zu glauben, Kinder als Zeugen ohnehin nicht ernst zu nehmen, ist ebenso groß, wie Erwachsenen alles das ohne weiteres zuzutrauen, was sich selbst nur verboten werden kann. In diesen Wochen wird der Vorsitzende Richter Ernst Härtter entscheiden, ob er die Kinder noch einmal vernimmt. Ob sie dies verkraften können, sollen Gutachter herausfinden. Möglicherweise werden sie allein von Härtter gehört und ihr „Aussageverhalten“, erstmals in der Justizgeschichte, per Video von den anderen Prozeßbeteiligten beobachtet werden können.

Kinderschutzgruppen wie „Wildwasser“ und „Zartbitter“ verstehen sich selbst als diejenigen, die den Kindern aus ihrer Profession heraus glauben. Damit tun sie das, was auch für TherapeutInnen Arbeitsgrundlage ist. Im Dilemma ist die Judikative, die zum Urteil Tatbestände braucht. Bittere Wahrheit, schreckliche Fiktion, Vermischung von beidem im Bewußten und Unterbewußten, Gruppensuggestion, Hilferufe zur Forderung nach Anerkennung oder als Protest gegen Eltern und Bezugspersonen, sind nicht so einfach säuberlich justitiabel von schrecklichen Erlebnissen zu trennen. „Kinder sind“, sagt resigniert ein Beobachter des Mainzer Kinderschutzbundes eben deshalb, „durch die Justiz nicht zu schützen.“ Ein inzwischen fünfjähriges Mädchen ist zu ihrem eigenen Urteil gekommen. Sie gab dem Heimleiter, der sich gegen Untersuchungen und Befragungen der Kinder wehrte, ihren Wunsch an das Gericht mit in den Zeugenstand: „Lieber möchte ich, daß meine Eltern tot sind, als daß die wieder aus dem Gefängnis kommen.“

Vor der Großmutter Waltraud B. müssen sich die Kinder nicht mehr fürchten. Die 59jährige Angeklagte wurde am Samstag in ihrer Zelle tot aufgefunden. Sie ist einem Herzanfall erlegen, erklärt die Staatsanwaltschaft. Bereits am 9. Januar war die Frau nach einem Schwächeanfall im Gerichtssaal zusammengebrochen. Allerdings habe es keinen Hinweis auf eine Herzerkrankung gegeben.

Entsetzliches haben die Kinder darüber berichtet, wie sie von der eigenen Familie – einschließlich der Oma – immer wieder mißbraucht, an fremde Erwachsene für Geld verliehen, für Pornofilme benutzt und mißhandelt worden seien. Dies habe sich, so die Staatsanwaltschaft, seit 1991 im Schatten des Doms in der katholischen Bischofsstadt Worms und ihren Vororten ereignet. Worms ist, läßt sich gleich nach den ersten Verhandlungstagen sagen, nicht Flachslanden. Dort ließ sich die Grenze, die öffentliche Abgrenzung zu den und Ausgrenzung der TäterInnen, leicht jenseits der Debilitätslinie ziehen. Hier sitzen sieben eher mehr als minder wohlanständige kleine Leute auf der Anklagebank, die nach gesellschaftlichem Aufstieg strebten. Die verstorbene Waltraud B., Großmutter etlicher der betroffenen Kinder, brachte ihre drei Söhne und zwei Töchter als Putzhilfe durch, sorgte dafür, daß sie richtige Berufe lernten. Sie wurden Bäcker, Friseurin, Sprechstundenhilfe. Sandra B. ist es sichtlich sehr wichtig, daß eine Kinderärztin als Zeugin geladen wird, die bestätigen soll, wie gut und fürsorglich sie ihre Kinder pflegte, wie sauber und ordentlich sie gehalten wurden.

Taten haben ihre Vorgeschichten, denen das Gericht, um zu einem Urteil zu kommen, seine Aufmerksamkeit widmen muß. Diese ist die eines Familienkrieges, der vor sieben Jahren begann. Manche der betroffenen Kinder sind in ihn hineingeboren worden. Am Ende lagen drei Familien in den Schützengräben und munitionierten sich mit Gerüchten, Verdächtigungen, Drohungen, Schimpf und Schande. 1985 hatte Kurt B. – wohl selbst das schwarze Schaf in der Familie der strengen Waltraud B. – seine Frau Marion geheiratet. Marions Mutter war, heißt es, „mit einem Teil ihrer Kinder“ aus unklaren Familienverhältnissen nach Worms gekommen. Waltraud B.s Familie nahm Schwiegertochter Marion nicht mit offenen Armen auf. Im Oktober 1985 wird Marions und Kurts Sohn Robert geboren. Marion verläßt ihren Mann Anfang 1987, gerade schwanger mit Tochter Jenny, die im Dezember zur Welt kommt. Dann sind da ein neuer Ehemann, 1989 ein neues Kind, Isabell, noch ein Ehemann und 1993 ein weiteres Kind, Jacqueline. Seit 1989 gibt es Gerüchte, daß diese Ehemänner brutal mit den Kindern aus erster Ehe und ihren eigenen umgehen. Die Kinder werden, stellt auch das Jugendamt fest, geschlagen. Sie haben blaue Flecken. Marion wendet sich energisch gegen die Mißbrauchsvorwürfe, die sich gegen ihren zweiten, dann auch den dritten Ehemann, Jürgen U., richten, gibt aber zu, die Kinder geschlagen zu haben. Von Handfegern und Kochlöffeln ist da die Rede, Robert sei einmal die Treppe runtergefallen, der Junge sagte, er sei mit einer Gürtelschnalle wund geschlagen worden. Eine Zeit lang kontrolliert eine Jugendamtsmitarbeiterin. Kurt B. sucht mehrmals das Jugendamt auf. Parallel tobt ein Behördenkrieg um Besuchsregelung, Sorgerecht und Unterhalt. Kurt B. zahlte, „wenn es mir möglich war“. Seine Mutter möchte, daß die Enkel bei ihr leben. Sie treibt den Kampf voran. Wechselseitig wird bei den Behörden denunziert.

Die Ereignisse eskalieren erst langsam, dann immer schneller. Mutter Marion wird das Sorgerecht für Robert und Jenny wegen massiver Mißhandlungen und Verdachts auf Mißbrauch entzogen, sie kommen 1991 zu Großmutter Waltraud B. Der Streit nimmt groteske Formen an, Besuche können nur noch unter Behördenaufsicht stattfinden, weil sonst mit gnadenlosem Gezänk und Gezerre auf Kosten der Kinder zu rechnen ist. Jede der Parteien verlangt Loyalität von ihnen. Das Jugendamt ist auf Marion und Jürgen U. aufmerksam geworden. Die beiden erklären sich bereit, auch Isabell und Jacqueline vom Kinderarzt untersuchen zu lassen. Wieder werden Mißbrauchsspuren entdeckt. Die Mädchen kommen in ein Heim. Sie werden außerdem an den Kinderschutzdienst von „Wildwasser“ übergeben. Beim von Marion angestrengten Sorgerechtsprozeß tritt Isabell, inzwischen vier Jahre alt, eine Lawine los. Sie hatte ihren Stiefvater Jürgen U. beschuldigt, bei „Wildwasser“ mit anatomischen Puppen dessen Mißbrauch nachgespielt. Auf dem Gerichtsgang sagt sie nun, ihr Halbbruder Robert sei „auch dabeigewesen“. Die verblüffte „Wildwasser“-Mitarbeiterin Ute P. fragt nach: „Die Jenny und die Oma auch?“ Isabell bejaht das. Sie sei, sagt Ute P. vor Gericht, „irritiert“ gewesen, denn sie habe sich nicht vorstellen können, daß die Parteien, die sich „spinnefeind“ waren, sich „gegenseitig besuchen“ und in ihren Wohnungen und außerhalb beim Mißbrauch gemeinsame Sache machen könnten. Nach längerem Befragen schließt sich Jenny den Aussagen von Isabell an, andere Kinder folgen. Daß einige der Jungen die Vorwürfe vehement bestreiten – auch eine Crux des Verfahrens – sagt, so Kinderpsychologen, nichts darüber aus, „daß da nichts war“. Drei der Jungen sollen gezwungen worden sein, ihre eigenen Schwestern zu mißbrauchen. In schneller Folge wird im Dezember 1993 fast die ganze Familie B. verhaftet. Die Verteidiger werfen der Staatsanwaltschaft vor, sie habe „wahllos“ einsperren lassen, um aus der Fülle der von den Kindern Genannten das eine oder andere Geständnis zu erzwingen.

Der Prozeß wird am Donnerstag weitergeführt