Ein Referendum nach 15 Jahren

■ Jan Ratschinskij von Memorial Moskau zur Auswirkung des Tschetschenien-Kriegs auf die russische Demokratiebewegung

taz: Bündnis 90/Die Grünen, die Sie nach Bonn eingeladen haben, kritisieren die zurückhaltende Reaktion der Bundesregierung gegenüber Jelzin. Wie beurteilen Sie die Politik des Westens?

Ratschinskij: Die bisherige Reaktion hat jedenfalls nicht dazu geführt, daß Jelzin seine Tschetschenien-Politik geändert hat. In der Kuwait-Krise hat eine härtere Politik des Westens mehr erreicht als das bisherige Taktieren in der Tschetschenien-Frage.

Ich plädiere nicht für Schritte, wie sie dann zum Golfkrieg führten. Aber ich halte es mittlerweile für gefährlich, Jelzin weiter zu unterstützen. Er hat nur noch Rückhalt bei Schirinowski. Der Westen muß helfen, den Kreml wieder auf den Weg der Zivilisation zurückzubringen.

Außenminister Kinkel warnt, die Alternative zu Jelzin heiße Schirinowski. Was ist mit den Demokraten?

Ich denke, im Augenblick stellt sich nicht die Frage, ob der Westen eine demokratische Alternative zu Jelzin unterstützen sollte. Er muß Druck ausüben, damit Jelzin seine Politik ändert. Die Frage nach einer demokratischen Alternative wird die nächste Wahl beantworten, da hat Jelzin kaum Chancen.

Befürworten Sie auch wirtschaftliche Sanktionen?

Ich denke, daß der Westen zunächst einmal seine diplomatischen Mittel ausschöpfen sollte. Wenn das nicht zum Erfolg führt, muß auch wirtschaftlich Druck ausgeübt werden mit dem Ziel, die Kampfhandlungen in Grosny zu beenden. Wirtschaftshilfe bedeutet Unterstützung eines Regimes, das mit seinem Volk Krieg führt.

Hat Moskau jemals ernsthaft versucht, den Konflikt mit Tschetschenien auf dem Verhandlungsweg zu lösen?

Es gab nur zwei halbherzige Versuche, Verhandlungen zu führen. Das ist für eine Zeit von drei Jahren ziemlich wenig. Die Verhandlungen, die nach dem Einmarsch der russischen Truppen geführt wurden, hatten von vornherein keine Erfolgschancen. Wer wirklich an einer einvernehmlichen Lösung interessiert ist, muß auch etwas anbieten.

Welche Lösung wäre für beide Seiten akzeptabel? Muß den Tschetschenen das Recht auf Selbstbestimmung gewährt werden?

Das ist eine sehr schwierige Frage. Ich persönlich bin dagegen. Selbstbestimmung ist aber nicht identisch mit Unabhängigkeit. Eine Möglichkeit wäre, die Frage einer Unabhängigkeit der Tschetschenen innerhalb der Russischen Föderation für eine ziemlich lange Zeit aufzuschieben und nach 15 Jahren ein Referendum abzuhalten. Unabhängigkeit kann nur auf dem Weg von Verhandlungen erreicht werden.

Droht die Armee sich wegen des Tschetschenien-Kriegs zu spalten?

Die Gefahr ist tatsächlich gegeben. Verteidigungsminister Gratschow hat keine Autorität im Lande, während etwa die Generäle Lebed oder Gromov sehr populär sind. Nach meinen Informationen ist der Teil der Armee nicht sehr groß, der den Krieg unterstützt. Je niedriger die Ränge, um so größer ist die Ablehnung des Tschetschenien-Krieges.

In Ostmitteleuropa löst der Krieg große Befürchtungen aus. Die Länder wollen in die Nato.

Ich verstehe, daß die Politiker dort sich Gedanken machen über die Sicherheit ihrer Länder, die gefährdeter sind als noch vor kurzer Zeit. In Rußland aber würde die Osterweiterung der Nato die antiwestliche Stimmung nähren. Interview: S. Herre, H. Monath