„Leichte Bewußtseinstrübungen“

Auftakt im „Dagobert-Prozeß“: Von den giftigen Dämpfen einer Lackiererei über die Angst vor einem Leben ohne Geld zur millionenschweren Kaufhauserpressung  ■ Aus Berlin Barbara Bollwahn

Zwei Jahre lang hat der berühmt-berüchtigte Kaufhauserpresser Arno Funke alias Dagobert die Polizei genarrt. Sympathiewellen für den gewitzten Erpresser rollten über das Land – T- Shirts, Mützen, Filme und Bücher wurden ihm gewidmet.

Bei dem gestrigen ersten Verhandlungstermin vor der 33. Strafkammer des Berliner Landgerichts jedoch war davon kaum noch etwas zu spüren. Das größte Interesse neun Monate nach Funkes Festnahme zeigten die Medien. Die Zuschauerbänke im Saal 500 des Landgerichts waren zwar bis auf den letzten Platz gefüllt, aber Dagobertmützen oder T-Shirts suchte man vergeblich. So begnügten sich einige Kamerateams damit, Bilder von Zeitungsartikeln (und die gestrige taz-Karikatur) aufzunehmen.

Der 44jährige Funke sagte gestern zum Tathintergrund umfassend aus. Mit leiser Stimme berichtete er über seine seelische Verfassung im Frühjahr 1988, als er das Berliner Kaufhaus des Westens (KaDeWe) um 500.000 Mark erpreßte. Stockend erzählte er, daß er damals „mit der Gesundheit und, wie soll ich sagen, mit der Psyche am Ende“ gewesen sei. Die Arbeit als selbständiger Lackierer sei ihm immer schwerer gefallen. „Ich hatte Probleme morgens beim Aufstehen, Probleme, den Antrieb zu finden.“ Er habe aber nie gedacht, daß die Lackausdünstungen schädlich sein können. Kurz zuvor hatte er jedoch ausgesagt, daß er in der Lackiererei, in der er bis 1979 gearbeitet habe, das Fehlen von Gasmasken bemängelt hatte. Außerdem habe er damals „vielleicht ein bißchen zu viel getrunken“. Zu dieser Zeit sei er sogar schon an der Umsatzsteuererklärung verzweifelt – er, der die Polizei bei den mindestens achtzehn Geldübergabeversuchen in zwei Jahren mit allerlei technischen Raffinessen an der Nase herumführte.

Sein Zustand sei damals so schlimm gewesen, daß er die feste Absicht gehabt habe, sich das Leben zu nehmen. Nur der „Selbsterhaltungstrieb, der sich immer wieder meldete“, habe ihn von den Suizidabsichten abgehalten. In einer „finanziellen Sanierung“ sah er die „Möglichkeit für ein neues Leben“. Und da er gewußt habe, daß „keiner einem so ohne weiteres freiwillig Geld gibt“ und er „nicht direkt Menschen gegenübertreten oder alte Omas überfallen wollte“, ließ er im renommierten KaDeWe eine Bombe hochgehen und erpreßte so 500.000 Mark. Es war der einzige Betrag, der ihm im Verlauf seiner mittlerweile verfilmten „Dagobert-Karriere“ tatsächlich übergeben wurde.

Der 44jährige Lackierer muß sich wegen der Herbeiführung von Sprengstoffexplosionen in Berlin, Hamburg, Bremen, Hannover und Bielefeld, wegen versuchter und vollendeter räuberischer Erpressung in insgesamt zehn Fällen sowie wegen versuchter Brandstiftung verantworten. Diese Vorwürfe können ihn bei einer Verurteilung bis zu fünfzehn Jahren hinter Gitter bringen. Der entstandene Schaden wird auf fast sieben Millionen Mark geschätzt. Zwei Jahre lang lieferte sich Dagobert mit der Polizei ein spektakuläres Katz-und-Maus-Spiel, bei dem die Sympathien meist auf seiner Seite waren. Zeitweise jagten ihn bis zu viertausend Polizeibeamte, immer wieder konnte er aufgestellten Fallen bei den vereinbarten Geldübergaben entgehen. Wegen „gestiegener Kosten“ erhöhte er Anfang 1993 seine Forderungen um 100.000 Mark. Etwa zeitgleich wurde bei der Überwachung von rund dreitausend Telefonzellen in Berlin fälschlicherweise ein australischer Politologe als Verdächtiger festgenommen. Selbst die Polizei zweifelte mitunter an der Existens von „Dagobert“. Im Oktober 1993 schließlich beging ein Hauptkommissar der Berliner Polizei Selbstmord, weil er sich am Versagen der Polizei mitschuldig gefühlt haben soll.

Auf die Frage des Vorsitzenden Richters, wie er denn die Bombe gebastelt habe, die im KaDeWe hochgegangen ist, lächelte Funke verschmitzt. Er fragte zurück: „Soll ich jetzt eine Anleitung zum Bombenbauen geben?“ Als wäre das Bauen von Rohrbomben ein Kinderspiel, verwies er lediglich auf seine Chemiekenntnisse aus der lang zurückliegenden Schulzeit. Genauso einfach wie die Herstellung der Bombe erschien ihm die Erpressung. Nach einem fehlgeschlagenen Bombenversuch und zwei Schreiben an die Geschäftsführung des KaDeWe bekam er die halbe Million. Anschließend reiste er nach Korea und auf die Philippinen, wo er seine jetzige Frau kennenlernte und einen Teil des Geldes durchbrachte.

Durch die Heirat und die Geburt seines Sohnes sei er zwar „etwas aus der Lethargie erwacht“, beteuerte er gestern. Trotzdem habe er für die Zukunft schwarzgesehen. Seine Depressionen hätten wieder zugenommen. Er habe nicht gewußt, „wie sich meine Gesundheit weiterentwickelt“. Auch aus den Plänen für einen Imbißstand für seine Frau sei nichts geworden.

Vier Jahre später – er hatte längst in der Lackiererei gekündigt und mit dem Trinken aufgehört – war er fest entschlossen, „nicht noch einmal vor dem Nichts zu stehen“. Jetzt erpreßte er die Firma Karstadt um eine Million Mark. Bei der Frage, warum er den Konzern gewechselt habe, wurde aus dem „Dagobert“ ein kleiner Robin Hood: „Ich wollte es gerecht verteilen.“

Um keine „Bezugspunkte“ zur ersten Erpressung zu liefern, legte er im Juni 1992 in der Karstadt-Filiale in Hamburg eine Bombe. Warum gerade Hamburg? „Weil auf dieser Autobahnstrecke am wenigsten Staus sind.“

Arno Funke entsprach gestern nicht nur dem Bild des gewitzten Erpressers. Er gab sich auch alle Mühe, der Strategie seines Anwaltes zu folgen. Immer wieder strich er sich angestrengt mit den Händen übers Gesicht. Eine Berufskrankheit soll Ausgangspunkt für die Taten gewesen sein. Nach jahrelanger Arbeit als Lackierer, so der Verteidiger und frühere Honecker-Anwalt Wolfgang Ziegler, sei sein Mandant durch das Inhalieren von Lösungsmitteln arbeitsunfähig geworden. Funke assistierte: er leide noch heute unter „leichten Bewußtseinstrübungen“. Auch ohne Alkohol habe er das Gefühl, getrunken zu haben.

Weil Dagobert bei seinen Taten stets darauf geachtet haben will, niemanden zu gefährden, hofft er nun seinerseits auf ein faires Verfahren. Und Anwalt Ziegler setzt auf strafmildernde Umstände für seinen Mandanten – weil er wegen der giftigen Lackdämpfe „vielleicht nur eingeschränkt schuldfähig ist“.

Obwohl die Anklageschrift 92 Seiten umfaßt, 41 Gutachten vorliegen und 117 Zeugen aufgefahren sind, schließt Ziegler nicht aus, daß die angesetzte Prozeßdauer von 21 Tagen unterschritten werden könnte. Das Verfahren wird am Freitag fortgesetzt.