Selbsthilfe bei der Schularbeit

Bei Kürzungen im Bildungsbereich fehlt es der Schulbürokratie an kohärenten Konzepten / Wenn Einschnitte vorgenommen werden, gehen sie häufig an die pädagogische Substanz / Ein Plädoyer für intelligentes Sparen an Schulen  ■ Von Rainer Werner

Daß Schule immer weniger von denen gestaltet wird, die sie täglich machen, gehört zu den Gemeinplätzen heutiger Diskussionen über Schule. Die Regelungswut der Schulbürokratien hat dazu geführt, daß der Verhau von Vorschriften und Erlassen immer undurchdringlicher wurde. In Zeiten voller Kassen hält sich der Schaden dieses „Brüssel-Syndroms“ in gewissen Grenzen, kann sich doch der Lehrer in vielen Fällen auf seine geistige Freiheit und pädagogische Autonomie zurückziehen, die diesem Beruf immer noch eigen ist. Die „Intimität der Schulstube“ (G. Fels) hat ihre eigenen Gesetze, die eine Widerstandskraft gegen die administrative Gängelung entwickeln. Problematisch wird das Verwaltungshandeln dann, wenn die finanziellen Quellen nicht mehr üppig sprudeln. Auf die „sieben mageren Jahre“ nicht vorbereitet, geraten die Schulbehörden in solchen Situationen gewöhnlich in Panik. Ohne kohärentes Sparkonzept liefern sie sich über kurz oder lang Finanzministern aus, die dann ohne schlechtes Gewissen, pädagogischer Sachverstand wird bei ihnen nicht vermutet, die „Grausamkeiten“ – wie sie es machiavellinisch nennen – exekutieren. Diese „Einschnitte“ gehen meistens an die pädagogische Substanz.

Bisher haben die Kultusminister und Schulsenatoren, wenn es finanzpolitisch opportun erschien, die Stundendeputate der Lehrer immer linear erhöht oder gesenkt. In Berlin wurde die Senkung, die vor einigen Jahren durchgeführt worden war, im letzten Jahr wieder rückgängig gemacht. Dabei wurde nur an wenigen Punkten die reale Arbeitsbelastung der Lehrer mitberücksichtigt (zum Beispiel bei Klassenlehrern). Ein Tabu wird von Schulbehörden und Berufsverbänden gleichermaßen gepflegt, als wäre es der Stein der Weisen: die Gleichbehandlung aller Fächer. Dies ist, wie jeder Lehrer weiß, eine Lebenslüge. Der Sportlehrer oder der Kunstlehrer der Sekundarstufe I hat keine Korrekturen zu erledigen. Den Lehrern für Deutsch und Politische Weltkunde dagegen wurde die Korrekturlast durch die Vermehrung von Klausuren und Diktaten erst jetzt wieder erhöht. Die Schere der realen Belastung geht also zwischen den Fächern immer weiter auseinander. Diese Ungleichbehandlung der Lehrer durch ihre vermeintliche Gleichbehandlung ist ärgerlich und unzumutbar. Sie spricht auch der Werbestrategie der Berufsverbände Hohn, die bei jeder Gelegenheit in der Öffentlichkeit betonen, daß die Zeit in der Schule für den Lehrer nur die eine Seite der Medaille sei, genauso wichtig seien Vorbereitung und Korrektur am häuslichen Schreibtisch. Wenn dem so ist, dann soll man bitte schön die reale häusliche Belastung in den einzelnen Fächern zugrunde legen. Der Spareffekt bei einer differenzierten Erhöhung beziehungsweise Absenkung der Unterrichtsdeputate liegt auf der Hand. Er ist sehr viel schülerfreundlicher als die Erhöhung der Klassenfrequenzen oder die Einschränkung der Wahlmöglichkeiten im Kurssystem oder Wahlpflichtbereich. Ob man eine solche Einsicht allerdings von Berufsverbänden verlangen kann, die ihren Mitgliedern nahelegen, auf Klassenfahrten zu verzichten, um den Senat (!) für seine Bosheiten zu bestrafen, darf man wohl eher bezweifeln. Die Gewerkschaften verteidigen mit ihrem Gleichbehandlungsgebot letztlich ihre Organisationsmacht. Die klassischen Industriegewerkschaften wissen schon seit längerem, daß Öffnungsklauseln bei Tarifverträgen oder individuell ausgehandelte Arbeitszeiten ihren Einfluß schmälern. Deshalb sind sie entschieden dagegen – auch wenn die Regelungen den Kollegen nützen. Die Abstimmung mit den Füßen – per Austritt – zeigt die Entfremdung einer starren Kampforganisation von denen, für die sie zu kämpfen vorgibt.

Die Lernmittelfreiheit wurde in den sechziger Jahren in deutschen Landen eingeführt, um durchzusetzen, daß alle Kinder unabhängig von ihrer sozialen Herkunft größtmögliche Bildungschancen haben. Dabei nahm man in Zeiten üppiger Kassen billigend in Kauf, daß auch die Tochter der Zahnärztin und der Sohn des Professors in den Segen der staatlichen Buchausleihe kamen. Inzwischen hat sich diese gutgemeinte Gabe zu einem Ärgernis entwickelt. Kinder behandeln heute Gegenstände schlecht, zumal wenn sie nicht ihr eigen sind. Die in der Gesellschaft vorfindbare Wegwerfmentalität führt bei Jugendlichen zu einem lässigen Umgang mit Büchern und Mobiliar. Die Lehrer, die die Schul- und Fachbibliotheken betreuen, können davon ein Lied singen. Ein Teil der Neuanschaffungen muß unterbleiben, weil unvollständige Klassensätze wieder vervollständigt werden müssen. An manchen Schulen werden bei der Abiturfeier die Zeugnisse nicht ausgehändigt, weil der Herr Abiturient das Chemiebuch nicht zurückgegeben hat. Kräfte und Nerven von Lehrern und Schulleitern werden verschlissen, wobei wegen der Vielzahl der „Fälle“ in diesem Kleinkrieg letztlich die Schüler gewinnen. Deshalb wäre es an der Zeit, bei der Lernmittelvergabe das Gießkannenprinzip zugunsten einer differenzierten und sozial gerechten Regelung zu ersetzen: Die Kinder von Eltern, die unter 3.000 Mark netto verdienen, bekommen das Buch von der Schule. Die anderen kaufen sich ihr Buch selber. Sie können es am Jahresende – guten Zustand vorausgesetzt – in einer Schulbörse an den nächsten Jahrgang verkaufen. Diese Maßnahme erfordert ein Umdenken, ein Weg von einer liebgewonnenen Versorgungsmentalität. Unser soziales Netz könnte für die wirklich Bedürftigen noch viel dichter geknüpft werden, wenn der Unfug abgestellt würde, den Mittelstand mit Subventionen zu bedenken. Die Wohnungsbauförderung ist progressiv einkommensbezogen. Mit den Steuerfreibeträgen bekommen die Familien mit besserem Einkommen eine größere staatliche Subvention als die unteren Einkommensgruppen. Das Kind einer Familie mit hohem Einkommen ist dem Staat fast doppelt so viel wert als das Kind einer ärmeren Familie. Hier hätten Parteien und Verbände, die die soziale Gerechtigkeit auf ihre Fahnen geschrieben haben, noch ein reiches Betätigungsfeld.

In Schweden, Israel, Polen reinigen Schüler ihre Klassenräume selbst. Putzfrauen sind verpönt, weil vermieden werden soll, daß die Heranwachsenden dünkelhaft über eine nichtakademische Berufsgruppe denken („Dafür haben wir doch die Putze!“). Der Effekt ist zudem, daß der Schmutz sich deutlich vermindert, wenn er selber weggeräumt werden muß. Entscheidend ist bei dem schwedischen Modell, daß die Schüler diese Aktion nicht als Strafe erfahren, sondern als Teil eines pädagogischen Konzeptes, das sie dazu animiert, ihren Lebens- und Arbeitsraum Schule zu gestalten und zu pflegen. Daß die Lehrer dabei mit anpacken, versteht sich von selber. Denkbar wäre bei uns folgendes Modell: Die normale Reinigung am Tagesende übernehmen die Schüler. Einmal im Monat reinigt ein professioneller Putzdienst. Von dem eingesparten Geld – es sind erhebliche Beträge – bekommen die Schüler der Schule zehn Prozent, zweckgebunden für die Ausstattung ihrer Klassenräume, der Gemeinschaftsräume, einer Cafeteria, für Ausflüge etc. Dieses Modell könnte man fortspinnen für die nötigen Renovierungsarbeiten. Jede Schule benötigt eine Reparaturwerkstatt, in der von Schülern unter Anleitung von Technikern das Mobiliar, das von ihnen beschädigt wurde, wieder repariert wird. Viele Schüler, deren überbordende Motorik ihrem Lernen oft im Wege ist, sind dankbar für tätige Abwechslung. Die Einwände, dies alles sei Flickschusterei, bestenfalls gut gemeint, sollten in Zeiten des Mangels zu widerlegen sein. Perfektionsdrang kann man sich leisten, wenn Geld keine Rolle spielt.

Die oben genannten Sparvorschläge lassen sich fast alle in relativ kurzer Zeit verwirklichen. Es bedürfte nur der entschlossenen Durchsetzung und der intellektuell überzeugenden Vermittlung. Auch wenn dies gelänge, hätte man als Bildungspolitiker keinen Anlaß, sich zufrieden zurückzulehnen. Zu groß sind die Verwerfungen, die die Bildungsexpansion in den sechziger und siebziger Jahren hervorgerufen hat. Die hohe Zahl derer, die ihr Studium abbrechen, belastet die Etats aller Bundesländer. Diese Studenten haben alle das Gymnasium absolviert, das anscheinend immer weniger dazu in der Lage ist, studienvorbereitend zu wirken. Prognosen gehen davon aus, daß bis zum Jahr 2000 maximal vierzig Prozent eines Jahrganges das Abitur ablegen werden. Wenn diese Oberschüler alle in ein Studium drängen, ist die Hochschule nicht mehr verwaltbar. Die Zahl der Abbrecher wird deshalb weiter zunehmen, immer mehr frustrierte und an den Rand gedrängte Halbakademiker signalisieren, daß unser Bildungssystem, das bisher nach dem Motto „Bildung für alle“ eine trügerische Vision verbreitet hat, aus den Fugen geraten ist. Der taxifahrende Ägyptologe im 24. Semester kann doch nicht das erstrebenswerte Ziel sein. Ein Blick in die Wochenendausgaben der großen Zeitungen verrät, daß immer mehr Facharbeiter oder Menschen mit mittleren, berufsnahen Abschlüssen gesucht werden, daß sie teilweise schon mehr verdienen als Akademiker, die gegen die Konkurrenz ihrer zahlreichen Mitbewerber bestehen müssen. Es führt über kurz oder lang kein Weg daran vorbei, das Gymnasium – vor allem die Oberstufe – wieder so zu strukturieren, daß es sein genuines Ziel wieder erreicht, den studierfähigen akademischen Nachwuchs heranzubilden. Ein Pflichtkanon an zu belegenden Fächern und der Klassenverband sind dahin sicher der richtige Weg. Erzieherische Kontinuität und personaler Rückhalt sind vielleicht doch höher zu bewerten als die studentischen Tugenden des Wählens und Suchens, die viele 16- bis 19jährige offensichtlich überfordern.

Neben der gymnasialen Reform brauchen wir dringend eine Neubestimmung der berufsnäheren Schulen. Zu überlegen wäre zum Beispiel, ob man das Modell vieler Privatschulen übernimmt, neben dem mittleren Schulabschluß eine handwerkliche Lehre anzubieten. Die relativ hohe Zahl an Jugendlichen, die in unserem Schulsystem überhaupt keinen Abschluß schaffen, ist sicherlich darauf zurückzuführen, daß sie der Verkopfung des Unterrichtes, der Überfrachtung mit kognitiven Lernstoffen nicht gewachsen sind. Eine stärkere Praxisorientierung könnte diesen oft sehr kreativen Schülern größere Erfolgserlebnisse verschaffen.

Wenn die Bildungspolitik diese „Reform der Reform“ wirklich anpackt, müßte sie ein zählebiges Relikt gleichzeitig auf den Prüfstand stellen: das öffentliche Dienstrecht. Nach der Post- und Bahnreform bleibt die öffentliche Verwaltung und die Schule das letzte Refugium eines starren und leistungsfeindlichen Besoldungs- und Beförderungssystems. Bisher galt der Satz von Gerhard Fels: „Eine Schule, in der nicht zumindest ein Teil der Lehrer(innen) mehr arbeitet als den Standesvertretungen angemessen erscheint, wird schnell zur eigenen Karikatur.“ Schule baute also auf die unentgeltliche Mehrarbeit eines Teils ihrer Lehrer. Warum sollte ein neues, gerechtes Besoldungssystem nicht die Lehrer belohnen, die durch Einsatz über das Soll hinaus am gemeinsamen Projekt Schule arbeiten. Warum sollen die Inhaber von Funktionsstellen nicht alle fünf Jahre neu nachweisen, daß sie ihre Aufgabe ihrem Gehalt entsprechend erfüllt haben?

Wer soll dies alles durchsetzen? Diese Frage drängt sich unwillkürlich auf, wenn man den hier ausgeführten Wunschkatalog sinnvollen Sparens betrachtet. Jede Bildungsdiskussion wird seit den sechziger Jahren in unserem Lande gnadenlos ideologisiert. In allen Gremien der Bundesländer lähmen sich die sogenannten A- und die B-Länder bis zur Bewegungslosigkeit. Was dann doch mitunter produziert wird, trägt den Stempel des faulen Kompromisses. „Man ist entweder Teil der Lösung oder Teil des Problems“ (E. Cleaver). Was aber tun, wenn sich die Mitglieder des bürokratisch-parlamentarischen Komplexes für letzteres entschieden haben? Letztlich hilft nur das Zusammengehen von reformwilligen Lehrern in den Schulen – unabhängig von den Vorgaben ihrer Berufsverbände – zu einer Koalition der Vernunft. Die Generation der 68er forderte in einem Anflug von Omnipotenz: „Die Phantasie an die Macht!“ Heute wären wir mit weniger schon zufrieden. Ein wenig mehr pädagogische Phantasie in den Amtsstuben und den Kollegien könnte nicht schaden.

Der Autor ist Studienrat in Berlin