■ In dieser Woche beginnen viele Tarifverhandlungen. Gewerkschaften wollen teilhaben am Aufschwung, Arbeitgeber nichts abgeben, und am Ende werden alle "gut dastehen". Wie machen die das?
: Die falsche Magie der Prozente

Die falsche Magie der Prozente

Als die IG Metall den Beschäftigten ihren Tarifabschluß vom Frühjahr 1994 verkaufen mußte, verwiesen Gewerkschaftsfunktionäre immer wieder auf die vereinbarten zwei Prozent Lohnerhöhung. Das sei doch immerhin keine Nullrunde gewesen. Es ist eine Nullrunde! jubelte dagegen der Arbeitgeberverband Gesamtmetall. Durch Leermonate und Kürzungen bei Sonderzahlungen blieb den Beschäftigten trotz Lohnerhöhung tatsächlich kein Pfennig mehr in der Kasse. Das sind Tarifverhandlungen: Der Versuch, die eigene Klientel zu besänftigen. Bei der Lohnrunde 1995 wird es nicht anders ein.

In der Metall- und Elektroindustrie Westdeutschlands wird voraussichtlich der Pilotabschluß für die gesamte Wirtschaft der alten Bundesländer verhandelt. Heute beginnt der Metall-Tarifbezirk Südwest mit den Verhandlungen, in anderen Bezirken sind sie schon in die zweite Runde gegangen. Schließt ein Bezirk ab, wird die Einigung in der Regel auch von anderen Metall-Bezirken übernommen. Die IG Metall fordert einen Abschluß in Höhe von „bis zu sechs Prozent“. Der Arbeitgeberverband Gesamtmetall will Lohnerhöhungen nur zustimmen, wenn die Unternehmen gleichzeitig an anderer Stelle von Kosten entlastet werden.

Prozentzahlen sagen noch gar nichts

Der gegenwärtige konjunkturelle Aufschwung stützt die Forderung der IG Metall. Ein Wachstum bis zu drei Prozent wird erwartet, das Wirtschaftsforschungsinstitut DIW hat Lohnerhöhungen von drei Prozent schon als angemessen bezeichnet. Unterm Strich droht den Beschäftigten dennoch ein Kaufkraftverlust. Denn der Solidarzuschlag, der Beitrag zur Pflegeversicherung und die Preissteigerungsrate schwächen die Kaufkraft der Beschäftigten in diesem Jahr um bis zu vier Prozent. In Gewerkschaftskreisen hieß es daher, viele Gewerkschafter wollten eine „Vier vor dem Komma“ sehen. Der Hauptgeschäftsführer von Gesamtmetall, Dieter Kirchner, nannte dagegen schon drei Prozent Lohnzuwachs „absolut falsch“.

Hier gibt es Spielraum, denn Prozente sind nicht gleich Prozente. Es kommt auf die Laufzeit der Tarifverträge an: Wird ein Tarifvertrag nicht nur für zwölf Monate, sondern für länger abgeschlossen, rechnet sich für die Arbeitgeber auch eine höhere Prozentzahl. Wenn in zwei Jahren zweimal um zwei Prozent erhöht wird, ist die Kostenbelastung für die Arbeitgeber etwa so hoch wie bei einer einmaligen Erhöhung um drei Prozent. Eine höhere Prozentzahl sieht aber für die Gewerkschaftsmitglieder besser aus. Beiden Seiten wäre also mit einem Tarifvertrag mit längerer Laufzeit gedient.

Das Geschiebe mit der Arbeitszeitverkürzung

Die IG Metall will die schon vereinbarte 35-Stunden-Woche zum 1. Oktober. Die Arbeitgeber haben zwar die Verkürzung der Wochenarbeitszeit zur Disposition gestellt – letztlich aber nur, damit sie die Kosten dieser Arbeitszeitverkürzung dann um so lauter geltend machen können. Es ist davon auszugehen, daß sich die Gewerkschaften die eigentlich längst beschlossene 35-Stunden-Woche auf ihre Forderung anrechnen lassen müssen.

Eine Verkürzung der Wochenarbeitszeit von 36 auf 35 Stunden, das bedeutet eine Arbeitszeitreduzierung und damit entsprechende Kostensteigerung um 2,8 Prozent. In der Regel rechnet man damit, daß etwa die Hälfte dieses Zeitverlusts durch Produktivitätsgewinne wieder wettgemacht werden kann. Es bleiben also immer noch 1,4 Prozent, um die sich die Gewerkschaftsforderung drücken läßt.

Die Rechnung gilt aber nur, wenn der Tarifvertrag eine Laufzeit mindestens bis 30. September 1996 hat. Denn erst am 1. Oktober 1996 beginnt die Arbeitszeitverkürzung. Um die 1,4 Prozent voll verrechnen zu können, müssen die Unternehmer also bis Herbst 1996 abschließen. Auch das spricht für einen Tarifvertrag mit längerer Laufzeit.

Mit Überstunden läßt sich gut tricksen

Die IG Metall will erreichen, daß Überstunden künftig nur noch in Freizeit abgegolten werden. Das soll die Unternehmer zu Neueinstellungen bewegen. „Wir werden mehr abschließen als eine reine Lohnzahl. Wir wollen auch etwas für die Arbeitslosen tun“, sagte dazu der Stuttgarter Bezirksleiter der IG Metall, Gerhard Zambelli.

Auch die Unternehmer sind für neue Regelungen zur Mehrarbeit – aber mit dem Ziel, vor allem die Überstundenzuschläge zu sparen. „Überstunden sind mit Zuschlägen von 25 beziehunsgweise 50 Prozent die teuerste Arbeitskraft überhaupt“, so Dieter Kirchner von Gesamtmetall; die Auftragsspitzen sollen künftig nicht mehr mit Überstunden, sondern über Gleitzeitkonten bewältigt werden sollen. Schon bei zwei zuschlagsfreien Überstunden pro Woche könnten die Metallunternehmer bis zu 2,8 Prozent an Kosten sparen.

Vertraglich festgelegte längere Arbeitszeiten sind jetzt schon möglich, aber nur unter bestimmten Bedingungen. In der Metallindustrie darf die vertragliche Arbeitszeit einzelner Mitarbeiter auf bis zu 40 Wochenstunden erhöht werden. Bedingung: Es sollen nicht mehr als 13 beziehungsweise 18 Prozent eines Betriebes betroffen sein, jeder einzelne Arbeitnehmer muß zustimmen. In der Tarifrunde 1995 könnten die Unternehmer fordern, daß diese Beschränkungen aufgeweicht werden. Mit den entsprechenden Kostenentlastungen könnte Gesamtmetall seinen Mitgliedsfirmen möglicherweise dann auch prozentuale Lohnerhöhungen verkaufen.

Die Vorteile von Einmalzahlungen

Die IG Metall fordert einmalige Pauschalbeträge für die Bezieher niedriger Einkommen. Dieter Hundt, Verhandlungsführer für die Arbeitgeber im Bezirk Nordwürttemberg-Nordbaden, hat dies zwar schon als „unsozial“ bezeichnet. Mit einer überproportionalen Anhebung der unteren Lohngruppen vertreibe man solche Arbeitsplätze aus dem Land. Eine solche Einmalzahlung bietet aber auch für die Unternehmer Vorteile: diese Pauschalbeträge gehen nicht in die Tarifstruktur ein. Bei einem längerfristigen Tarifvertrag sind die Einmalzahlungen außerdem relativ gut zu verkraften. Und beide, Gewerkschaften und Arbeitgeber, könnten sich damit auf die Fahnen schreiben, daß die Belastung durch die steigenden Abgaben wenigstens für die Niedrigverdiener kompensiert wird.