Eine Zukunft gibt es nicht

■ 9. Tage der jiddischen Kultur im Prenzlauer Berg mit Schwerpunkt Wilna – Die Fotografien Laurence Salzmanns

Jahrhundertelang war die Stadt ein Zentrum des osteuropäischen Judentums: Wilna, das heutige Vilnius, wurde von Juden in ganz Europa als „litauisches Jerusalem“ bezeichnet. Wilna war ein religiöser Mittelpunkt mit berühmten Talmudschulen und Gelehrten, Ursprungsort der jüdischen Aufklärung, der Haskalah, Gründungsort der jüdischen Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung, Sitz des 1925 ins Leben gerufenen, für die Judaistik und den Zionismus bedeutsamen „Jüdischen Wissenschaftlichen Instituts“ (YIVO).

1939 lebten 80.000 Juden in Wilna, fast ein Drittel der Einwohner sprach jiddisch. Zwei Jahre später besetzten deutsche Truppen die Stadt. Sie wurden von den Litauern mit Blumen empfangen. Es begann eine Schreckenszeit. 2.000 Juden überlebten die Shoah.

Wilna ist Thema der 9. Tage der jiddischen Kultur, deren Veranstaltungen von 21. bis 26. Januar im Theater unterm Dach und in der WABE stattfinden. Auf dem Programm, das ein „Beitrag zur Weltkulturdekade der UNESCO“ sein soll – für weniger tun's die Sponsoren wohl nicht –, stehen Vorträge über das YIVO und über jiddische Musik, Konzerte, Filme und Lesungen.

Außerdem ist eine kleine Ausstellung des amerikanischen Fotografen Laurence Salzmann zu sehen, der im vergangenen Sommer nach Litauen reiste, um die letzten Spuren der jüdischen Geschichte Wilnas mit der Kamera festzuhalten, Spuren, die von Tag zu Tag undeutlicher werden. Seine Fotos sind überwiegend Aufnahmen von Überlebenden, deren Geschichte jeweils in wenigen Sätzen in der Bildunterschrift erzählt wird. Judel Ronder ist einer von ihnen. Die jüdische Bevölkerung seiner Heimatstadt wurde im Juni 1941 von den berüchtigten „Litauischen Aktivisten“ umgebracht. Nach seiner Flucht war er Soldat in der litauischen Division der Roten Armee.

Ronder ist der einzige Überlebende aus seiner Familie. Seit vierzig Jahren versucht er, die Mörder der Juden Litauens ausfindig zu machen. Sein „Schwarzbuch“ enthält zweitausend Namen von Tätern. Viele von ihnen leben unbehelligt in den USA und Kanada, wurden nie angeklagt, nie zur Rechenschaft gezogen. Ronders Tochter emigrierte kürzlich nach Frankfurt am Main. Er selbst würde gern nach Israel gehen.

Esfira Bramson floh als Sechzehnjährige zu Fuß über die russische Grenze und entkam so den deutschen und litauischen Mördern. Sie ist heute Leiterin der jüdischen Abteilung der Wilnaer Bibliothek. Über 40.000 hebräische und jiddische Titel aus dem Bestand des YIVO konnten vor den Papiermühlen und Flammen der Deutschen gerettet werden.

Es sind Bücher, die heute niemand mehr liest und die auch niemand mehr lesen wird, denn die Söhne und Töchter wandern wegen der antisemitischen Stimmung in Litauen meistens nach Israel aus: „Manchmal denke ich, daß ich der letzte Mensch bin, der die Bücher aufschlägt“, sagt Esfira Bramson, die am 22. Januar um 16 Uhr im Theater unterm Dach über ihre Erlebnisse und die Geschichte des YIVO sprechen wird.

Antanina Vaicieniene, früher Pflegeschwester in einem Behindertenheim, hält auf Salzmanns Foto stolz eine Plakette in Händen – eine Auszeichnung, die ihr für die Rettung jüdischer Kinder verliehen wurde. Heute lebt sie von einer dürftigen Rente in einem Zimmer, das sie mit Heiligenbildern geschmückt hat. Sie gehört zu den wenigen „Rettern“, die Salzmann auf seiner Reise kennenlernte.

Die großformatigen Schwarzweißbilder wechseln mit Fotos ab, die aus einem Album mit Urlaubserinnerungen stammen könnten: Gassen, Hinterhöfe, spielende Kinder im ehemals jüdischen Viertel von Wilna, Grabsteine eines jüdischen Friedhofs, vom Verfall bedrohte Gebäude und Straßenzüge sind darauf zu sehen.

Die Perspektiven gleichen denen von Roman Vishniac, der in den späten 30er Jahren Wilna besuchte und das „Schtetl“ im Auftrag des „Hilfsvereins der deutschen Juden“ fotografierte. Salzmann imitiert in diesem Teil der Ausstellung – anders als Vishniac – den Blick des ethnographisch interessierten Touristen. Er verstärkt damit den Eindruck, daß das, was er vorfand, kaum mehr wahrzunehmende Zeugnisse einer vergangenen Kultur sind. Unter dem Portrait von Lejba Lipschitz steht der Satz, der das Schicksal der jüdischen Gemeinde von Wilna voraussagt: „Eine Zukunft gibt es nicht und kann es nicht mehr geben.“ Stephan Schurr

Ausstellung „Jüdisches Leben in Litauen“, 12.1.–3.2., Di.–So. 14–20 Uhr. Kulturamt Prenzlauer Berg, galerie parterre, Dimitroffstraße 101. Das genaue Programm der Kulturtage ist beim Kulturamt zu erfragen, Telefon: 42 40 12 67.