Im Kessel ohne Ventil

■ „arte“ zeigt in Erstaufführung Rashid Masharawis „Ausgangssperre“ (20.40 Uhr)

Eigentlich müßte man diesen Film zusammen mit Claude Lanzmanns „Tsahal“, einem Porträt der israelischen Armee, zeigen. Auch „Curfew“ ist ein bißchen hinter dem aktuellen Stand der Dinge zurück – Rashid Masharawi, der selbst im Flüchtlingslager Sha'ati aufgewachsen ist, zeigt den Gaza- Streifen, wie er 1993 war: ein Kessel ohne Überdruckventil; ein Ort, der keine Geschichte hat, sondern nur Zustände, und der seinen Bewohnern das Alleräußerste an sozialer Kompetenz abverlangt.

Um ebenjene Zustände geht es in „Curfew – Ausgangssperre“. 24 Stunden mit Vater, Mutter, Bruder, Bruder, Schwester, Tante, Nachbarn und Nachbars Schreien auf etwa neunzig Quadratmetern. Masharawi, der weiß, wovon er redet, hat mit zusammengebissenen Zähnen einen Film gemacht, der die Wut gerade genug in Schach hält, um notfalls einer UNO-Resolution als Material dienen zu können. Es ist kein Palästinenser-Film geworden, wie man sie kennt: Heldenporträts, als Nazis porträtierte israelische Gefängniswärter und die schwarzrotgrüne Fahne.

Die Armee ist nur einmal überhaupt zu sehen, aber stets über Lautsprecher, Jeeps und Panzerketten präsent. Niemand kann das Haus verlassen. Das Obst, das Khalil mit dem Laster nach Tel Aviv bringen sollte, verfault. Die Schule bleibt zu. Das Kind der Nachbarstochter stirbt nach einem Tränengasangriff – niemand hat einen Arzt holen können.

Die Teenager haben Magengeschwüre statt einer ordentlichen Pubertät (die kommt höchstens noch strafverschärfend hinzu). Die Frauen, für die „Ausgangssperre“ eigentlich nur die Potenzierung ihres ohnehin vom Islam vorgeschriebenen Hausarrests bedeutet, müssen doppelt routieren: Rationen verkleinern, Nervenzusammenbrüche kompensieren, Flugblätter verschwinden lassen, wenn die Männer in einer Razzia sind, und nicht verzweifeln.

Sehr geschickt hat Masharawi den Vater mit dem israelischen Filmstar Salim Daw besetzt, der sehr gern auch Rollen als jüdischer Schlemihl übernommen hat und als umwerfender Komiker ausgewiesen ist. Wenn so einem das Lachen vergeht, muß die Lage fatal sein.

Man merkt dem Film natürlich an, daß er für den Export bestimmt ist – und warum auch nicht. Gleich zu Anfang, vor der Sperre, meldet der Briefträger, von Haus zu Haus gehend, fröhlich „Said, du hast einen Brief aus Jordanien!“, „Und du einen aus Ägypten!“ Die Familie, um die es geht, bekommt einen aus Deutschland, vom Bruder, der dort studiert und der gerade eine Bergtour plant. Dieser Brief, als einziger Kontakt zur Außenwelt, von der man bei ausgefallenem Fernseher nicht mehr so recht weiß, ob sie noch existiert, wird wieder und wieder verlesen – statt eines Gebets, so scheint es.

Kein überflüssiges Wort fällt in diesem Film, alles hat Lehrwert; aber das macht nichts, schließlich war es die Wahrheit – wenn auch nur die halbe. Mariam Niroumand

Die arte-Reihe wird am Samstag, dem 28. 1., um 21.35 Uhr mit „Balagan“ von Andreas Veiel fortgesetzt. Die 90minütige Dokumentation zeigt die Theaterarbeit des israelisch-palästinensischen „Akko“- Theaters. In dem fünfstündigen Experiment „Arbeit macht frei“ setzte die Gruppe die Erfahrungen des Holocaust mit den gegenwärtigen Konflikten der Region in Beziehung. „Akko“ gastierte mit „Arbeit macht frei“ im April 1992 in Berlin. „Balagan“ wurde anläßlich der Berliner Filmfestspiele 1994 mit dem Filmband in Silber ausgezeichnet.