Anerkannte kulturelle Praxis

Warum braucht die populäre Kultur eine ästhetische Theorie? Droht nicht Langeweile, wenn Pop zuviel Anerkennung bekommt? Und gibt es „gute“ und „böse“ Beats? Ein Gespräch mit dem amerikanischen Philosophen Richard Shusterman

taz: Mr. Shusterman, Sie versuchen, eine philosophisch-ästhetische Legitimation der Pop-Kultur am Beispiel des Rap zu liefern. Wem nützt das? Warum ist es überhaupt wichtig, eine solche Legitimation zu haben?

Richard Shusterman: Ich sehe mindestens zwei gute Gründe dafür. Einer hat persönliche Wurzeln. Ich glaube allerdings, daß ich dabei nicht nur aus einem subjektiven Interesse sprechen darf, sondern auch für Freunde und für eine wachsende Zahl jüngerer Intellektueller. Da die populäre Kultur immer noch zu wenig anerkannt wird, laufen viele von ihnen mit einem Schuldgefühl herum, weil sie mit einer nicht „legitimen“ Kunst so viel Zeit verbringen. Oder sie leben ein Doppelleben, aufgeteilt zwischen den Sachen, die sie zum Spaß machen, und dem würdigen Material, das man studieren darf oder über das man arbeiten darf. Ich glaube, diese künstliche Trennung ist nicht nur für die Betroffenen nicht gut, sie ist auch schädlich für die Tradition. Wie sollen kommende Generationen herausbekommen, was mit uns los war, wenn überhaupt keine Werkzeuge bereitliegen, unsere Kultur zu verstehen? Ich habe überhaupt nichts gegen Museen. Aber die bildende Kunst hat in den letzten Jahrzehnten nicht sehr viel getan, um diese eigene Art der Erfahrung zu ermöglichen, nach der die Leute offenbar ein vitales Bedürfnis verspüren: ästhetische Erfahrung. Und auch deshalb haben sie sich der populären Kultur zugewandt.

Aber können Sie sich eigentlich wünschen, Erfolg zu haben? Wenn die populäre Kultur zum Objekt gelehrter Studien wird, wird sie dann nicht von ihren Quellen abgeschnitten? Wird sie nicht genauso langweilig wie all das, gegen das sie aufsteht?

Natürlich können Sie sagen, daß ich den einfachen Leuten ihre Kultur stehle, und das wird ja auch gesagt. Aber damit schreiben sie auch fest, wie man diese Kultur aufzunehmen habe, und das ist eine Haltung, die ebenfalls nicht frei von intellektuellem Dünkel ist. Ich kann nur sagen, daß ich bemüht bin, meinen eigenen Zugang zu dieser Kultur zu festigen, indem ich ihn ästhetisch-philosophisch legitimiere. Und ich bin mir im klaren darüber, daß Rap nicht entwickelt wurde, um die pragmatistische Ästhetik zu rechtfertigen, sondern um dazu zu tanzen. Aber das Reden über die populäre Kunst darf weder denen überlassen werden, die sie verkaufen, noch denen, die sie mit dieser Frankfurter-Schule- Kulturkritik überziehen. Ihre Kritik muß eine anerkannte kulturelle Praxis werden, damit die populäre Kultur eine Instanz hat, die sie herausfordert.

Der erste Grund für die philosophische Legitimation dieser neuen Kunst ist aber ein hedonistischer. Es geht darum, das Vergnügen der Leute daran zu unterstützen und sie vielleicht durch neue, interessantere Beschreibungen in die Lage zu versetzen, dieses Vergnügen zu verlängern und zu verfeinern. Wenn sie sich noch mit Schuldgefühlen abplagen, weil sie so viel Zeit auf populäre Kultur verschwenden, sind sie nicht in der Lage, diese Dinge ernsthaft zu studieren. Außerdem braucht man eine Kritik der populären Kunst nach ästhetischen Kriterien, damit diese Kunst sich entwickeln kann. Alle Kunst wird besser durch Kritik. In Frankreich ist mein Buch in einer Reihe herausgebracht worden, die von Pierre Bourdieu betreut wird. Von Bourdieu und anderen ist mir dann vorgeworfen worden, daß ich keine Ethnographie der Rezeption des Rap in seiner „Zielgruppe“ liefere, sondern meinen eigenen Zugang zu dieser Musik philosophisch aufmotze. Das klingt wie ein berechtigter Einwand, aber das zugrundeliegende Bild ist doch bezeichnend: als gäbe es diese klare Zielgruppe, deren Stammesmusik der Rap ist.

Aber es spielt doch eine Rolle, wer von welchem Ort aus über Rap spricht.

Sicher, aber populäre Kultur, Rapmusik, ist für mich und meine Freunde und Studenten nichts Exotisches, von dem man sich derart distanzieren könnte, daß eine Ethnographie dabei herauskäme. Es ist allerdings auch riskant, sich Rap auf die Weise anzueignen, wie ich es getan habe. Da ich selber ein weißer Mittelschichts-Intellektueller bin und mein Ansatz, mich mit Rap auseinanderzusetzen, dies auch nicht verheimlicht, ist mein Unternehmen von vornherein verdächtig, der afroamerikanischen Kultur irgend etwas klauen zu wollen. Es war deshalb erstaunlich, aber auch lustig für mich zu sehen, wie anders meine Position bei Vorträgen in Frankreich war. Ich wurde als Repräsentant der amerikanischen Kultur behandelt, ein Konzept, an das in den USA keiner mehr glaubt. Und zweitens spielte hier eine Rolle, daß ich Jude und Israeli bin, was in Europa gleich nach schwarz kommt. Ich wurde im französischen Fernsehen als „der jüdische Philosoph Richard Shusterman“ vorgestellt ...

... das verleiht Ihnen eine gewisse Glaubwürdigkeit, wenn sie über schwarze Kultur sprechen ...

... ja, genau: „Er ist nicht wirklich schwarz, Leute, aber auch nicht richtig weiß.“ In den USA wissen die Leute, daß ich Jude und Mittelschichts-Intellektueller bin, ich mache ja niemandem vor, ich sei ein B-Boy. Aber: der „jüdische Philosoph“ Shusterman – was das für einen Skandal gäbe, wenn man mich dort so vorstellen würde!

In Ihrem Buch heißt es einmal, Rap sei „down with Dewey“. Wo sehen Sie die Gemeinsamkeit?

Zunächst einmal darin, daß John Dewey, einer der Gründer des amerikanischen Pragmatismus, die Trennwand zwischen Kunst und Leben eingerissen hat, die von der philosophischen Ästhetik aufgebaut worden war. Ich kann überall ästhetische Erfahrungen machen, nicht nur im Museum, in der Konzerthalle – und nicht nur an von vornherein dazu bestimmten Gegenständen. Der Pragmatist versteht die Wirklichkeit als etwas, das sich ständig durch menschliche Praxis, auch durch Veränderungen der Begriffe, in denen sie beschrieben wird, verwandelt. Die Wirklichkeit, die die Philosophie des Pragmatismus verstehen helfen will, ist keine über, hinter oder unter diesem ziellosen Prozeß, sondern dieser Prozeß selbst, eine Wirklichkeit-von-Tag-zu-Tag. Dieses Denken kommt von Hegel und Darwin her, hat aber die Vorstellung der selbsttätigen Bewegung auf ein Ziel oder eine höchste Vollendung hin verworfen. Die Dinge können schieflaufen. Rap ist eine Kunstform, die sich im Bezug zu einer solchen Wirklichkeit sieht. Beim Rap lokalisiert sich häufig der Sprecher – man sagt, ob man aus der Bronx, aus Queens, aus Brooklyn spricht. Außerdem gibt es einen geschärften Sinn für Zeitlichkeit. Die Rapper nennen

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manchmal das Datum, an dem der Song entstand oder aufgenommen wurde. Die Datierung zeigt: dies hier gilt nicht für immer und ewig, aber das ist o.k. Es ist sehr wichtig zu wissen, „what time it is ...“

Das wäre also Rap als „the black man's CNN“?

KRS One von BDP nennt sich selbst Dichter, Lehrer und Metaphysiker. Er hat seine Platten mit „KRS One, Metaphysician“ signiert. Das mag Ihnen lächerlich scheinen, wenn Sie aus einem akademischen Kontext kommen, aber die Rapper, sage ich, haben einen Begriff von „Metaphysik“, der dem des Pragmatismus ähnelt.

Sie scheinen nicht nur an die Verbesserbarkeit der populären Kultur zu glauben, sondern auch daran, daß diese uns bessern kann. Nicht zufällig erwähnen Sie Schiller. Soll Rap nun richten, was die Hohe Kunst nicht vermochte, die „ästhetische Erziehung des Menschengeschlechts“?

Ich glaube tatsächlich an so etwas wie Bildung durch populäre Kunst. Aber meine Ästhetik ist keine verkleidete Moralphilosophie. Es gibt da ein starkes hedonistisches Element. Populäre Kultur hat direkte Ziele, sie verbessert, verstärkt, erleichtert das Leben.

Und was ist mit den dunklen Seiten, mit Gewalt, Sexismus, Rassismus, die ja in der Rede über Rap eine große Rolle spielen?

Auch damit hätte sich eine ernsthafte ästhetische Kritik auseinanderzusetzen. Aber ich sehe nicht, warum man grundsätzlich anders mit Gewalt und dem Bösen in „Ödipus“ oder „King Lear“ und im Gangsta-Rap umgehen sollte. Wie alle große Kunst bringt Rap das harmonische Bild einer Welt, unserer Welt, durcheinander, in dem alles seinen kleinen Platz findet. Es ist klar, daß Gangsta-Rap oder der sexistische Pimp-Style die größte mediale Aufmerksamkeit findet, weil er sich politisch sensationell ausschlachten läßt. Und wenn man Rap als politisches oder soziales Phänomen behandeln kann, braucht man über ihn nicht mehr in ästhetischen Begriffen zu reden. So konnte es so weit kommen, daß man beim Reden über Ice-T schließlich völlig außer acht lassen konnte, wieviel Ironie in dessen Posen und Texten liegt.

Manche Popkritiker in Deutschland sind sehr schockiert von dem Phänomen des Rechts- Rocks. Einige haben angesichts der Entdeckung, daß es auch eine rechte Jugendkultur gibt, den Abschied von der Jugendkultur schlechthin vollzogen. Man will gewissermaßen nicht zum gleichen Beat tanzen wie diese Jugendlichen, und es gibt plötzlich den Wunsch, den guten und den bösen Beat identifizieren zu können.

Ach ja, es wäre schön, wenn man dieses Verstörende in der Musik selber lokalisieren könnte. Dann wäre man das Problem los. Dieses Problem stellt sich allerdings schon mit Wagners Antisemitismus. Vielleicht kann da der Blick auf die unterschiedlichen Verwendungen von Rap helfen. In Frankreich ist Rap keine schwarze Angelegenheit. Die Jugendlichen, die sich ihn hier aneignen, haben oft ihre familiären Wurzeln im Maghreb und reagieren sehr empfindlich auf den islamischen Trend ihrer Vorbilder aus den USA. Denn dort, wo sie oder ihre Eltern herkommen, ist der Islam ein Mittel politischer Repression. Auf den Philippinen gibt es Rapper, die politisch rechts stehen und in ihrer Musik die traditionellen Werte gegen die westliche Modernisierung verteidigen. Interview:

Harald Fricke/Jörg Lau