Vor verblichenen Waldtapeten

Wunderlich und aufregend: „The Wrestling School“ gastiert mit Howard Barkers „Hated Nightfall“ im Hebbel Theater. Barker führt bei dieser Erstaufführung erstmals auch Regie.  ■ Von Miriam Hoffmeyer

Als die Überreste der liquidierten Zarenfamilie 1989 in Jekaterinenburg entdeckt wurden, war ein Geheimnis gelüftet, um das sich siebzig Jahre lang alle möglichen abstrusen Theorien gerankt hatten. Dafür gaben die überzähligen Gebeine, die am selben Ort gefunden wurden, neue Rätsel auf. „Hated Nightfall“ von Howard Barker zeigt eine mögliche Version der letzten Stunden vor der Exekution. Das wunderliche, aufregende Stück erklärt die Herkunft der zusätzlichen Überreste und stellt gleichzeitig tausend neue Fragen.

Der Hauslehrer Dancer, von Lenin persönlich mit der Hinrichtung beauftragt, steht zwischen zwei Epochen. Er liebt die Schönheit und Noblesse der Zarin und ihrer Kinder mit der Besessenheit eines Lustmörders und dient gleichzeitig der Revolution. Als „Türsteher des Jahrhunderts“ gehört er nirgendwohin. Und er hat nicht viel Zeit: „Ich bin nur eine flüchtige Erscheinung.“

Im Hebbel Theater lehnt ein Telegraphenmast an einer klassizistischen Säule: Lenins Elektrifizierung ist bis in den Park des Zaren vorgedrungen. Langsam spazieren die Romanows in hellen, fleckigen Gewändern vor verblichenen Waldtapeten, auf welken Blättern. Ian McDiarmids Dancer dagegen springt hektisch hin und her, läßt sich auf einen Stuhl fallen, nur um gleich wieder hochzufahren, und spricht wie ein Maschinengewehr der Revolution. (So schnell können die Techniker die holprige deutsche Übersetzung, die oberhalb der Bühne erscheint, gar nicht einblenden.)

Dancers unheimliche Redegewandtheit hält ihn vom Handeln ab. Und doch ersticht der nervöse Zauderer vier Abgesandte der Revolution – weil sie die ideale Hinrichtung, die er sich schwärmerisch erträumt, gefährden. Mit Recht zieht der revolutionäre Chor, der in antiken Gewändern immer wieder aus der Versenkung auftaucht, seine Verläßlichkeit in Zweifel.

Howard Barker sieht die liquidierte Zarenfamilie als „Heilige der Moderne“. Von ihrer Hinrichtung gehe deshalb eine so große Faszination aus, weil sie ein ungeheurer symbolischer Verstoß sei: „ein Verstoß gegen die Unantastbarkeit der Familie und der weiblichen Schönheit, die beiden großen Pfeiler europäischer Kultur“. Und doch ist das Bild der Romanows in „Hated Nightfall“ brüchig: Der schwächliche Zar (Sean Baker) ergeht sich in Phrasen der Empörung, während die Zarin (Kate Duchene) sich von der Familie isoliert und in krankhaft tiefen Schlaf sinkt.

In der Inszenierung der britischen „Wrestling School“, in der Howard Barker erstmals selbst Regie führt, verschwimmen die Bedeutungen, rätselhafte Abgründe tun sich auf. Barkers Abscheu vor der Eindeutigkeit des politischen Theaters der älteren Generation erinnert daran, wie sich junge deutsche Regisseure von den 68ern abgrenzen. Wie Leander Haußmann mißtraut Barker allen klaren Konzepten und theatralischen „Botschaften“, wie Matthias Hartmann will er zurück zum Subjekt, zu Schmerz und Schuld des einzelnen.

Für jedes von Dancers Mordopfern gießt der kleine Zarewitsch ein wenig Wasser zu Boden – eine segnende, priesterliche Geste. Er begießt auch die Hochzeitstorte, mit der der liebeshungrige Dancer seine symbolische Vermählung mit den Romanows feiern wollte. Statt dessen wird er von den Revolutionären gräßlich verstümmelt. Vielleicht gelingt Dancer dadurch, daß er selbst zum Opfer wird, die ersehnte Unio mystica mit den todgeweihten Heiligen. Aber noch im Sterben bleibt der Schwärmer skeptisch: „Death even will be more disappointing than my imagination predicted.“

„Hated Nightfall“ von Howard Barker (englisch mit deutscher Übertitelung); Regie: Barker; Bühne: Johan Engels; noch heute, 20 Uhr, im Hebbel Theater, Stresemannstraße 29, Kreuzberg.

Eine zweite Inszenierung zeigt „The Wrestling School“ zwischen 24. und 26. Januar, jeweils 20 Uhr, mit Howard Barkers Stück „The Castle“, Regie führt Kenny Ireland, Bühne: Richard Aylwin.