„Das Pharmakon der 90er heißt Bildung“

■ Ein Gespräch mit dem Präsidenten der Berliner Ärztekammer, Ellis Huber, über die Möglichkeiten einer effizienten Krankheitsprävention und Gesundheitsförderung

Seit dem Gesundheitsstrukturgesetz hat die Diskussion um eine effiziente Nutzung der Ressourcen im Gesundheitswesen neuen Schwung bekommen. Auch die Krankenkassen setzen zunehmend auf Prävention. Doch für weite Teile der Ärzteschaft gehören Vorsorge und Gesundheitsförderung immer noch zum Randbereich der Medizin.

Ellis Huber, seit 1987 Präsident der Ärztekammer Berlin und Mitglied der reformorientierten Fraktion Gesundheit im Ärzteparlament, tritt für einen grundlegenden Orientierungswandel in der Medizin ein.

taz: Herr Huber, ist der Bereich der Krankheitsprävention immer noch ein Stiefkind der Medizin?

Ellis Huber: Ja. International hat längst ein grundlegender Orientierungswandel im Gesundheitswesen stattgefunden. Hierzulande ist die Ärzteschaft noch weit davon entfernt. Dabei war es der Berliner Arzt Helmut Milz, der 1986 die Ottawa-Charta zur Gesundheitsförderung für die Weltgesundheitsorganisation formuliert hat. In Deutschland orientieren sich viele Ärzte an einem mechanistischen Bild vom Leben. Es wird vernachlässigt, daß die pathogenetischen und salutogenetischen, also die krankmachenden und heilenden Faktoren beim Menschen in seinem Umfeld zusammenwirken.

Was muß sich ändern?

Es geht darum, neue Versorgungsweisen zu entwickeln, die mehr an der Kultur als an den Strukturen ansetzen. Hilfe zur Selbsthilfe ist angesagt. Curative Maßnahmen, Vorsorge und Rehabilitation sollten in einer Art sozialem, interdisziplinärem Gesundheitszentrum zusammengefaßt werden. Gesundheitsberater aus unterschiedlichen Berufen, Psychologen, Sozialarbeiter und Ärzte müßten in den Praxen zusammenarbeiten.

Wo kann eine sinnvolle Krankheitsprävention ansetzen?

Wichtig ist der Umgang mit Gesundheitsstörungen. Gerade bei chronischen Leiden muß der Patient lernen, wie er auch mit seinem Handicap zufrieden leben kann. Außerdem mangelt es an Aufklärung. Die Bevölkerung sollte über Grundfertigkeiten der Selbstversorgung, über die Bedeutung und Grenzen der medizinischen Versorgung unterrichtet sein. Auch die Vermittlung psychosozialer und technischer Lebenshilfen für den Alltag gehört dazu. Die Fähigkeit, sich zu entspannen, müßte ein genauso wichtiges Schulfach wie Informatik sein. Das Pharmakon der Neunziger heißt Bildung.

Wird die Ausbildung der Ärzte dem gerecht?

Das Medizinstudium in seiner derzeitigen Form birgt die Gefahr, daß emotionale Analphabeten herangebildet werden. Wir müssen weg von der Multiple-choice-Veranstaltung zu einer bewußten Kultivierung der Arztpersönlichkeit, die auch die emotionalen Nöte der Patienten versteht.

Kann sich ein Arzt zeitintensive Krankheitsprävention überhaupt leisten?

Das Honorarsystem ist ein gesundheitspolitisches Verbrechen, weil es davon ausgeht, daß ein repariertes Teil besser ist als ein optimiertes Ganzes. Es ist nicht geeignet, Vorsorgeaufgaben zu finanzieren. Deshalb sollten die Krankenkassen Zeithonorare einführen, mit denen sie die Leistungen des Arztes in der Prävention entsprechend seiner jeweiligen Qualifikation vergüten. Gesundheitsförderung muß für die Krankenkassen Pflichtaufgabe sein. Die Gesundheitsberater sollten sich bei ihrer Arbeit weiterqualifizieren. Bisher betreiben die Kassen Gesundheitsförderung leider als Marketingstrategie, um gegen die Konkurrenz bestehen zu können.

Interview: Anja Dilk