Die Krankheit Tod

Todesverdrängung, Intensivmedizin, Aids. Ein Soziologe, ein Chirurg und ein Philosoph versuchen, unsere Sterblichkeit zu begreifen  ■ Von Stefan Hesper

Wenn meine Zeit gekommen ist und ich sterbe, will ich nicht, daß etwas von mir übrigbleibt. Ich will kein leftover sein. Ich habe diese Woche eine Frau in eine Strahlenmaschine gehen und darin verschwinden sehen. Das war wunderbar. Materie ist nichts als Energie, ihr Körper löste sich einfach auf. Das wäre eine echt amerikanische Erfindung, die größte amerikanische Erfindung überhaupt – einfach verschwinden zu können ... Das Schlimmste, was einem nach dem Tod passieren kann, ist einbalsamiert und in einer Pyramide aufbewahrt zu werden.“ So das philosophische Credo von Andy Warhol zur angemessenen Form des Sterbens – als Verschwinden. Doch entflieht Warhol damit nicht in typisch postmoderner Manier der Endgültigkeit des Todes, würde nun der englische Soziologe Zygmunt Bauman einwenden? Bauman, in Deutschland in letzter Zeit bekannt geworden durch seine Studien zur Ambivalenz der Moderne, hat nun eine Studie zum Wandel im Umgang mit Tod und Sterblichkeit vorgelegt. Sie untersucht, wie Gesellschaften, vormoderne, moderne und postmoderne, die „Wahrheit der Sterblichkeit“ kaschieren, wie weit die ganze Arbeit der Kultur nichts anderes ist, als ein Vergessenmachen der Sterblichkeit. Bauman will uns, nicht ohne existentialistisches Pathos, aufklären und belehren über die Wahrheit hinter der Kultur, über die „höchste Absurdität“ des Todes und die „unaufhebbare Ambivalenz der kontingenten Existenz“. Er entdeckt in seinem historischen Überblick des Vergessen-Machens drei dominant gewordene Strategien:

– eine moderne, die Sterblichkeit zu medikalisieren und sie zu einer heilbaren Krankheit unter anderen zu machen, um schließlich Unsterblichkeit zu versprechen für die, die es sich leisten können;

– eine postmoderne, die Flüchtigkeit, Vergänglichkeit und individuelle Selbststilisierung als tägliche Probe und Vorwegnahme des Todes einübt;

– daneben gibt es noch die vormoderne Strategie, Sterblichkeit öffentlich zu integrieren und aus dem Tod durch Rituale eine Feier zu machen.

Die Geschichte des Umgangs mit Tod und Sterben ist für Bauman eine Verfallsgeschichte der Anteilnahme und Integration der Sterblichkeit in allen sozialen Bereichen. Um 1800, kann man ergänzen, wurde das bis dahin geltende Verständnis des Sterbens zweifelhaft. Friedrich Schlegel schrieb noch 1798: „Aller Tod ist natürlich; jeder stirbt aus Reife und zur rechten Zeit“ – eine im Sinne Baumans typisch vormoderne Einschätzung. Auch damals sah und wußte man natürlich, daß der Tod „häufig, früh, blind und ohne Warnung zuschlug“. Aber der Tod war nicht zu verhindern und nicht zu kontrollieren. Die Ursache für eine Veränderung des Todesbildes ist nach Bauman – eine für einen Soziologen erstaunliche Diagnose – der „philosophische Individualismus“, die Emanzipation vom Absolutismus und den Regeln der Natur, wie sie etwa in der Französischen Revolution und ihrer Religion der Vernunft zum Ausdruck kam. Bauman argumentiert hier unverständlich vage, so daß man nicht genau versteht, wie die eine Strategie durch eine andere abgelöst werden konnte. Mit der Freisetzung der Individuen, der Auflösung tradierter gesellschaftlicher Bande wächst nach seiner Darstellung auch gleich der Wunsch nach Reintegration in Form einer unsterblichen Nation oder Rasse, um der Wahrheit der Sterblichkeit zu entgehen. Der Nationalismus und Rassismus des 19. und 20. Jahrhunderts, Fremdenfeindlichkeit und Völkermord, Historisierung und Musealisierung, verdecken so lediglich den Wunsch, zu überleben und unsterblich zu werden. Typisch für das 19. Jahrhundert ist nach Bauman, daß natürlich die Reichen und Mächtigen in erster Linie Anspruch auf Überleben und Gedächtnis erheben, für die anderen bleibt das Denkmal des unbekannten Soldaten oder das Hospital.

Der Wunsch nach Unsterblichkeit wird genährt durch die neuen Diagnose- und Therapiemöglichkeiten der Medizin, die zugleich ein neues überwachendes Selbstverhältnis mitproduzieren: „Nie hören wir, daß Menschen sterben, weil sie sterblich sind. Sie sterben lediglich aufgrund einzelner Ursachen, sie sterben, weil es eine einzelne Ursache gab. ... Der Tod kommt nicht am Ende des Lebens, er ist von Anfang an da und bedarf einer ständigen Überwachung, die keinen Moment nachlassen darf.“ Tod und Sterben sind nach 1800 nicht länger natürlich, Leben ist „organisierte Fäulnis“ (Georg Büchner) von Anfang an. Alles, was dieses fragile Leben bedroht, kann dann zum Feind oder zur Gefahr werden. „Die echte Furcht vor dem frühzeitigen Tod [wird] solange gemästet und aufgebläht, bis sie neurotische Dimensionen annimmt“: Vergiftungsängste und Hygieneforderungen, Reinheitsdenken und Ökologie stehen so am Horizont einer Bestimmung von Sterblichkeit als Krankheit.

Die postmoderne Strategie des Heroismus für einen Tag bricht mit der Hoffnung auf Unsterblichkeit. Sie sieht den Tod weder als natürliches Ende noch als ständige Bedrohung, sondern als einen „Aufschub, ein Übergangsstadium“. Man feiert die tägliche „Generalprobe des Todes“, nimmt täglich Abschied von Wünschen nach Unsterblichkeit und Gedächtnis, um die „Vergänglichkeit und Flüchtigkeit der Dinge“ genießen zu können. Welche soziale Gruppe Bauman hier vor Augen hat, wird nicht klar, deutlich wird allerdings, daß er diese Gruppe am wenigsten mag, weil sie die modernen Ewigkeitsideale und den männlichen Existentialismus seiner Generation ignoriert. Spätestens in den Ausführungen zur Postmoderne, zum Sterben-als-Verschwinden, wird deutlich, wie sehr Bauman bürgerlich-männlichen Werten anhängt und wie sehr er der modernen Kunst und ihrem Narzißmus mißtraut. Andy Warhol, der ideale Repräsentant eines Sterbens als Verschwindens und einer Kunst der Entleerung wird von Bauman bezeichnenderweise nicht angeführt. „Das Leben ist kein Roman mit einer begrenzten Anzahl von Charakteren, einer Handlung und einem Ausgang“, bedauert er: „Vielmehr ist es ein Bahnhofsbuchstand, zum Bersten vollgestopft mit den neuen Bestsellern. Und die Haltbarkeit eines Bestsellers, wie einer ihrer Autoren bemerkt, irgendwo zwischen Milch und Joghurt.“ Man fragt sich, ob für Baumans Buch nicht das gleiche gilt.

Fast am Ende seines Buches resigniert Bauman völlig angesichts einer Welt, die er nicht mehr versteht: Wir seien unfähig, „Leben als Wirklichkeit zu konstruieren, Leben ernst zu nehmen“. Was uns allein retten kann, verrät er in einem erstaunlichen Nachwort, wäre unsere Bereitschaft zum uneigennützigen Selbstopfer, unsere Bereitschaft für andere zu sterben. „Eine solche Bereitschaft für den anderen zu sterben markiert den Augenblick des moralischen Erwachens aus jenem selbstsüchtigen Dämmerzustand, in dem die meisten Menschen ihr Leben überwiegend zubringen.“

Sätze wie diesen hat man hierzulande in den letzten Jahren vor allem von den neuen rechten Intellektuellen vernommen. Es ist erstaunlich, daß Bauman derart mißverständlich endet und aus seiner Liebe zum Tod als Existential ein Plädoyer für das Selbstopfer macht. Das Buch überzeugt weder in kulturgeschichtlicher noch in kulturkritischer Hinsicht. Und es liefert unfreiwillig den Beleg für das Unvermögen der linken Intelligenz, sich in Fragen der Kulturkritik noch von rechten Positonen zu unterscheiden.

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Das Buch des Medizinhistorikers und Chirurgen Sherwin Nuland über die gegenwärtigen Formen des Sterbens stimmt in vielen Punkten mit den Diagnosen Baumans zur Medikalisierung des Todes in der Moderne überein. „Niemand stirbt an Altersschwäche, zumindest würden amtliche Statistiker das so statuieren, wenn sie die Welt regierten. ... Jedermann hat an einer benennbaren Krankheit zu sterben, so will es nicht nur das US-Gesundheitsministerium, sondern auch die Weltgesundheitsbehörde WHO.“ Nuland erzählt Fallgeschichten aus seinen letzten 40 Jahren als Arzt. Anders als Bauman liefert Nuland keine Kulturgeschichte liefern, sondern seine persönliche und medizinische Wahrnehmung des Sterbens. Er beschreibt, wie wenig Chancen wir haben, uns auf den Tod vorzubereiten und in Würde zu sterben, „wenn der Körper uns im Stich läßt“ und wir ins Krankenhaus transportiert werden. Etwa 70 Prozent der Deutschen sterben im Krankenhaus, mehr als drei Viertel aller Sterbenden stirbt in Bewußtlosigkeit oder unter Schmerzen, ein Viertel stirbt sofort oder innerhalb weniger Stunden. Von einem ruhigen Tod ist bei Sherwin Nuland selten die Rede, doch er will keine Angst machen, sondern zeigen, daß wir uns auf das Sterben vorbereiten können – wenn auch nicht auf unser eigenes, so doch auf das der anderen, das wir begleiten müssen.

Anhand von sechs Todesursachen (Herzinfarkt, Schlaganfall, Krebs, Aids, Alzheimer und Unfälle) beschreibt Nuland die physiologischen Prozesse ebenso nüchtern und verständlich wie sein Erleben und die Umgangsweisen von Verwandten und Freunden mit dem Sterben. Wichtig für seine Einschätzung der Möglichkeiten und Grenzen der Schulmedizin sind die eigenen Erfahrungen mit dem Sterben, denen er seine Berufung zum Mediziner und seine Skepsis verdankt: die Erfahrung des Todes seiner Mutter mit elf Jahren, die Erfahrung des Sterbens und Todes der Großmutter, bei der er aufgewachsen war, der Tod seines ersten Patienten mit 22. Jedesmal erfährt er zugleich die Ohnmacht der Medizin. Nulands Buch ist auf gute Art amerikanisch: Es ist anrührend, ohne sentimental zu sein, es ist nüchtern in seinen Erklärungen physiologischer Prozesse, ohne belehrend zu sein. Seine Vorschläge für einen angemessenen Umgang mit dem Sterben sind einfach: Ebenso wichtig wie die medizinische Kontrolle und Überwachung der Krankheit durch Spezialisten ist eine persönliche Begleitung und Aufklärung über den Verlauf der Krankheit hinweg. „Der Tod gehört den Sterbenden und den Menschen, die ihn in Liebe begleiten“, schreibt Nuland, und meint damit zugleich: er gehört nicht dem Krankenhaus und den Ärzten. Anders als Bauman sympathisiert Nuland nicht mit dem Tod als Ort der Wahrheit und Enthüllung des eigentlichen Sinns des Lebens. Wenn der „würdige Tod“ meistens nicht möglich ist, bleiben wir auf ein Leben in Würde zurückverwiesen: „Die Kunst des Sterbens ist die Kunst des Lebens.“

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Eine weitere Studie, diesmal aus philosophischer Sicht, zum Thema Sterben als Krankheit, hat der Derrida-Schüler und -Interpret Alexander Garcia Düttmann vorgelegt. Er untersucht die Konstruktion von Identitäten in Autobiographien von Aids-Kranken und Berichten über Aids, um schließlich nachzuweisen, daß Aids dem Projekt der Dekonstruktion verwandt sei, weil es in beiden Fällen um einen Prozeß der Destrukturierung und Identitätsverfehlung geht. Düttmann sucht nach der Wahrheit von Aids im Uneins- Sein mit sich selbst und entlarvt alle Versuche, im Zeichen von Aids einen Lebenszusammenhang und einen Lebenssinn herzustellen, als Verkennung ursprünglichen Seins. Trotz der dekonstruktiven Herkunft ist Düttmann gar nicht zurückhaltend und sehr ursprünglich in seinen Diagnosen und Thesen: „Zeit zu leben und zu sterben hat man vielleicht erst, wenn man sich weder einer Identität verpflichtet, noch ihrem Gegenteil, der Zerrissenheit, anheimfällt: Vielleicht hat man sie, ohne über sie zu verfügen, im ursprünglichen Uneins-Sein, in der ursprünglichen Nicht-Zugehörigkeit, in der ursprünglichen Impertinenz.“ Düttmann beschreibt Aids nicht als Beginn einer neuen Epoche im Umgang mit Krankheit, er untersucht nicht Behandlungs- oder Trauerformen, sondern er versucht, den „Bruch zu denken“, den es da gegeben haben muß, um dann ein Leben „ohne historische Identität“ beschreiben und vorschlagen zu können, „das nicht bezeugt und nicht einbekennt“. Gerade weil Aids zahlreiche (sexuelle, medizinische, nationale) Grenzen durchbrochen hat, kann, so Düttmann nicht unbescheiden, „einzig ein Denken der ursprünglichen impertinenten Existenz ... dazu in der Lage sein, sich an der zerstörerischen Kraft des Virus zu messen“.

Seine Studie berührt sich an vielen Punkten mit der von Bauman, weil auch sie versucht, pathetisch die Wahrheit zu sagen und die Verkennungsformen im Umgang mit unserem Leben und Sterben zu entschleiern: Hinter allem steht für Düttmann unsere Unfähigkeit zur Kontrolle, unser „ursprüngliches“ Uneins-Sein mit uns selbst. So kommt er zu der erstaunlich mageren These, daß Aids sichtbar macht, „was unser Denken und Handeln immer schon bestimmt, ohne daß wir es wissen“. Aids ist Dekonstruktion, Dekonstruktion ist Aids, so lassen sich die Schlußüberlegungen Düttmanns zusammenfassen, eine Krankheit, die keine Krankheit, sondern eher ein Parasit ist, der sich Unterscheidungen und Zuordnungen zu entziehen scheint: „Ist die Dekonstruktion nicht auch eine Art Virus, der eines Tages aufwacht?“ Wo bei Bauman häufig Stichworte wie „absurd“ und „existentiell“ fallen, um den Status der Sterblichkeit zu markieren, liest man bei Düttmann „immer schon“ und „ursprünglich“. Beide sind so vermessen, ihre Lesart als die einzig angemessene zu preisen, um sich der Sterblichkeit zu stellen, sei es durch eine Moral des Selbstopfers, sei es durch eine Moral der ursprünglichen Nicht-Zugehörigkeit.

Aber wer wie Düttmann einer Methode folgt, die Privilegien und Maßstäbe der Einsicht dekonstruiert, kann nicht im Gegenzug sagen, welche Haltung einzig angemessen ist, um sich der „Herausforderung“ von Aids zu „stellen“, um sich mit ihr zu „messen“! Wir mußten sicher nicht auf Derrida und seine Schüler warten, um zu verstehen, wie wir mit Krankheit und Sterblichkeit umgehen können.

– Zygmunt Bauman: „Tod, Unsterblichkeit und andere Lebensstrategien“. Fischer Taschenbuch 1994, 320 Seiten, 22,90 DM

– Sherwin B. Nuland: „Wie wir sterben. Ein Ende in Würde?“ Kindler Verlag 1994, 400 Seiten, 38 DM

– Alexander Garcia Düttmann: „Uneins mit AIDS. Wie über einen Virus nachgedacht und geredet wird“. Fischer Taschenbuch 1993, 140 Seiten, 10,90 DM