Nützliches Feindbild Immigrant

Argentiniens Regierung spielt mit den Ressentiments gegen Einwanderer aus den lateinamerikanischen Nachbarländern, um die Löhne im eigenen Land zu senken  ■ Aus Buenos Aires Astrid Prange

Sie verunzieren das „lateinamerikanische Paris“ mit Elendsvierteln. Sie nehmen den Einheimischen die Arbeit weg und drücken die Löhne. Sie schleppen Krankheiten ins Land und besetzen die Betten öffentlicher Krankenhäuser. So definiert Argentiniens Innenminister Carlos Ruckauf die Rolle der Immigranten in der argentinischen Hauptstadt Buenos Aires. „Der massive und illegale Ansturm“, stellt Ruckauf klar, „schadet dem Land“.

Das klassische Einwanderungsland Argentinien kämpft mit einem Paradoxon: Seit dem Amtsantritt von Wirtschaftsminister Domingo Cavallo im April 1991, als die Landeswährung Peso im Verhältnis eins zu eins an den US-Dollar gekoppelt wurde, übt Argentinien auf seine lateinamerikanischen Nachbarn mit instabiler Währung und Niedriglöhnen eine enorme Anziehungskraft aus. Doch Arbeitsplätze sind auch am Rio de la Plata rar: Zehn Prozent der wirtschaftlich aktiven Bevölkerung ist ohne Beschäftigung. Weitere zehn Prozent schlagen sich im informellen Sektor zum Beispiel als Straßenverkäufer durch.

Zur Zeit leben nach Angaben der Einwanderungsbehörde über zwei Millionen Immigranten in Argentinien, rund die Hälfte davon ohne gültige Papiere. Die letzte große Einwanderungswelle liegt schon fünfzig Jahre zurück: während des Zweiten Weltkriegs nahm Argentinen 500.000 Flüchtlinge auf. Im vergangenen Jahrhundert lebten zwischen Pampa und Anden sogar mehr Ausländer als Argentinier: auf eine Million Einheimische kamen sieben Millionen Immigranten.

„Die Einwanderung ist nichts neues. Doch die Arbeitslosigkeit hat die Situation geändert. Außerdem brauchen die Unternehmer keine ungebildeten Arbeitskräfte mehr“, meint Fernsehjournalist Antonio Vulin. In Wirklichkeit hat der Boom vor den Anden sehr wohl zusätzliche Arbeitsplätze geschaffen, allerdings nicht für die Argentinier. Die Baubranche, die in den letzten drei Jahren um durchschnittlich 15 Prozent wuchs, beschäftigt fast ausschließlich Bolivianer, Chilenen und Peruaner.

Regelmäßig fliegen sklavenähnliche Arbeitsverhältnisse auf. Unter katastrophalen Bedingungen und in Zwölf-Stunden-Schichten verlegte etwa eine Gruppe von vierzig Bolivianern in der Stadt Rosario Telefonkabel für die argentinische „Telecom“. Zur Übernachtung wurden die Arbeiter zu 18 Mann in einen drei mal sechs Meter großen Raum gepfercht. Als Bett mußte der blanke Boden, als Decke die Kleidung herhalten. Küche und Bad gab es nicht.

„Es existiert eine echte Mafia, die sich darauf konzentriert, illegale Arbeitskräfte ins Land zu schleusen“, ist Innenminister Ruckauf überzeugt. Die Drohungen des Ministers, die Unternehmer zu bestrafen, die ausländische Arbeitskräfte zu niedrigeren Löhnen unter Vertrag nehmen, verpufften bis jetzt allerdings in der Luft. Statt die Mafia zu bekämpfen, sollen die Löhne der argentinischen Arbeiter gesenkt werden. Schon jetzt bekommen die meisten nur noch Zeitverträge. Für die – mittlerweile privatisierte – Kranken- und Rentenversicherung müssen sie selbst aufkommen, Urlaubsanspruch haben sie nicht. Der schlichte Plan der Regierung: Weil der Peso nicht abgewertet werden soll, Argentiniens Exporte aber preiswerter werden müssen, müssen die Produktionskosten gesenkt werden – also die Löhne.

Die Bolivianer, die täglich in Buenos Aires vor ihrer Botschaft Schlange stehen, um einen gültigen Personalausweis zu beantragen, kümmert dies alles nicht. „Ich gehe nicht weg. Hier zahlen sie mehr als in Bolivien“, erklärt ein Indio, der sich mit der argentinischen Playboy-Ausgabe die Zeit vertreibt. Bei der Obsternte verdient er fünf Dollar pro Tag. Zusammen mit sieben weiteren Erntehelfern wohnt er in einem Hühnerstall ohne Licht in einem Vorort von Buenos Aires.

Das Zimmermädchen Matilde Diaz aus Paraguay sieht ebenfalls keinen Grund, vor der Verachtung zu fliehen, mit der die Argentinier ihre „verarmten Nachbarn“ strafen. „Ich wollte nicht so enden wie die anderen Mädchen, die sich mit einem bunten Sonnenschirm an die Straße stellen und auf brasilianische Lastwagenfahrer warten“, meint die 27jährige, die 350 Dollar im Monat verdient. „Wenn ich 8.000 Dollar zusammengebracht habe, gehe ich zurück und mache einen Kiosk auf“, plant sie.

„Die Mehrheit der Immigranten sind Bauarbeiter, und bei den Frauen überwiegen die Hausangestellten“, erklärt Sergio Rodriguez Oneto, Leiter der argentinischen Einwanderungsbehörde. Bei der Amnestie im vergangenen Jahr, der fünften seit dreißig Jahren, stellte er 200.000 illegalen Immigranten eine Arbeitserlaubnis aus. „Die Hälfte der Begünstigten waren Bolivianer, ein Drittel Paraguayer und der Rest verteilte sich auf Brasilien, Chile, Peru und Uruguay“, erklärt der Behördenleiter.

Sein Vorgesetzter Innenminister Carlos Ruckauf hat bereits angedroht, nach dem Ablauf der Amnestie alle illegalen Fremdarbeiter abzuschieben. „Wir sind nicht nur gegen die unlautere Konkurrenz. Wir wollen uns auch gegen die Armut abschotten, die die Immigranten mitbringen.“ Ein Abstecher in die ausgedehnten Elendsviertel am Rande von Buenos Aires zeigt jedoch, daß die Armut hausgemacht ist. Nach allgemeinen Schätzungen leben in der Elf-Millionen-Metropole Buenos Aires mindestens drei Millionen Argentinier in improvisierten Behausungen. „Die innere Migration treibt die Landbevölkerung in die Ballungsgebiete. Diese Bewegung paart sich mit den von noch größerer Armut verfolgten Menschen aus den Nachbarländern“, heißt es in einem Leitartikel der größten argentinischen Zeitung Clarin. Die Argentinier mit Universitätsabschluß, die in die Industrienationen auswanderten, seien die andere Seite der gleichen Medaille.