Keine Nachkriegszeit

■ Neue Offensive in Tschetschenien / Gedenkminute in Moskau

Moskau/Grosny (AFP/dpa) – Die russische Armee hat im Tschetschenien-Krieg eine neue Offensive eingeleitet. Ihre Truppen beschießen nun zahlreiche Ortschaften entlang der wichtigsten Verbindungsstraße von der Hauptstadt Grosny in die Nachbarrepublik Inguschetien mit Artillerie und Raketen. Dadurch soll offenbar der Hauptversorgungsweg nach Grosny abgeschnitten werden. In der Region von Atschchoi- Martan lagen nach Angaben der regionalen Behörden „acht von elf“ Orten unter russischem Artilleriebeschuß. Nach der Einnahme des rund 35 Kilometer südwestlich von Grosny gelegenen Assinowskaja versuchten die russischen Truppen unter anderem, die Ortschaft Bamut und die 30 Kilometer südöstlich Grosnys gelegene Stadt Schali zu erobern.

In der Hauptstadt selbst schlugen nach einem vorübergehenden Abflauen der Kämpfe in der Nacht zum Sonntag gestern vor allem im Süden Grosnys erneut zahlreiche Granaten und Raketen ein. Die Tschetschenen konnten ihre Positionen östlich des Flusses Sundscha jedoch zunächst halten. Um seine Truppen in Tschetschenien zu verstärken, zieht Moskau nun offenbar auch Soldaten und Waffen aus Kaliningrad ab. Dies erklärte ein Sprecher der litauischen Regierung. Einerseits, so der Sprecher, sei zu begrüßen, daß im ehemaligen Ostpreußen abgerüstet werde. Andererseits wolle man nicht, daß die Tschetschenen – deren Unabhängigkeitskurs in Litauen große Sympathien genießt – „den Preis für die Entmilitarisierung zu zahlen haben“.

Trotz der fortdauernden Kämpfe und der Umgruppierung ihrer Armee, ist die russische Regierung offenbar der Ansicht, daß in Tschetschenien die „Nachkriegsphase“ begonnen hat. Vor einem Treffen mit Bundesaußenminister Klaus Kinkel in Bern sagte Außenminister Andrei Kosyrew, jetzt gehe es darum, die zivilen Strukturen in Tschetschenien wiederaufzubauen. Moskau wolle der tschetschenischen Bevölkerung die Möglichkeit eröffnen, „in einem demokratischen Verfahren über ihr eigenes Schicksal zu entscheiden“.

In Moskau gedachten gestern mehrere tausend Menschen der Opfer des Tschetschenien-Krieges. Sie waren dem Aufruf der Partei Demokratische Wahl Rußland und der Gesellschaft zum Schutz der Menschenrechte Memorial gefolgt. Gemeinsam mit moslemischen und orthodoxen Priestern hielten sie am Rande des Ljubljanka-Platzes beim Sitz des russischen Geheimdienstes einen Trauergottesdienst ab. Unterdessen sind erneut 80 Mütter russischer Soldaten, die sich in tschetschenischer Gefangenschaft befinden, von der inguschetischen Hauptstadt Nasran aus nach Grosny aufgebrochen. Wie die Nachrichtenagentur ITAR-TASS meldete, hatte der tschetschenische Präsident Dudajew die Freilassung der Gefangenen für den Fall angekündigt, daß deren Eltern nach Grosny kämen. Am Donnerstag hatte der tschetschenische Generalstabschef mitgeteilt, seine Einheiten hätten etwa 200 russische Militärs gefangengenommen.