Das Mädchen mit den blauen Perlen

■ Eine Kurzgeschichte von Murathan Mungan

Aus vielen Gründen hat dieses Jahr einen besonders wichtigen Platz in meinem Leben. Im Alter werde ich mich oft daran erinnern, das weiß ich jetzt schon. Die lebendigen Eindrücke jener Tage werden mich nie verlassen. Schon heute lasten sie wie ein drückender Schwur auf meinem Herzen, wann immer ich zurückdenke ...

Mein Geliebter war nach Diyarbakir versetzt worden. Er kam oft nach Istanbul, wir telefonierten täglich stundenlang und hatten große Sehnsucht. Andererseits hat in diesen Tagen unsere Beziehung Schaden genommen. Wir litten. Durch die schwere und düstere Prüfung begriffen wir, wie sehr wir uns liebten. Uns waren Wunden geschlagen, und nun wachten wir gegenseitig über unsere Wunden.

Diesmal rief er mich zu sich, ich nahm das erste Flugzeug nach Diyarbakir und flog zu ihm. Wir verbrachten sehr schöne Tage in Diyarbakir, er zeigte mir seine Kindheit. Die Straßen, wo er aufwuchs. Die Plätze, auf denen er Ball spielte. Die Innenhöfe, in denen er schlief. Das Bad seines Großvaters. In der Liebe gibt es Momente, in denen man eifersüchtig wird auf die Kindheit des Geliebten und sich fragt: „Warum war ich damals nicht bei ihm?“ Das geschieht erst in fortgeschrittenen Zeiten einer Liebe. Dort waren wir also angekommen. Ich liebte seine Kindheit wie ein völlig anderes Geschöpf. Er hatte von zu Hause seine Familienfotos bringen lassen, und ich betrachtete seine Kindheitsbilder eins nach dem anderen, ganz lange, mit tiefer Liebe und Zärtlichkeit. Seine Kindheit wurde mir zum Bruder. Die Liebe will auch die nicht gemeinsam verbrachten Zeiten erobern. Zwei Fotos – jeder von uns im Alter von 15 – hängen noch immer untereinander im Arbeitszimmer an der Wand. Man sagt, wie ähnlich wir uns doch sähen. „So ist es“, antworte ich.

Die Tage in Diyarbakir waren trotz allem wie ein Traum. Abends saßen wir mit der Begeisterung frisch Verliebter im Restaurant des Tourist Hotels, aßen und tranken, um dann auf unser Zimmer zu gehen und uns bis in die Morgenstunden leidenschaftlich zu lieben.

Von einer großen Liebe bleiben immer große Momente übrig. Die kann euch keiner nehmen. Selbst in unheilbaren Zeiten einer Liebe könnt ihr euch meist nicht trennen wegen der Erinnerung an jene Momente.

Auf dieser Reise nach Diyarbakir gab es für mich solche Momente. Nun war ich an der Reihe, um meine Kindheit zu zeigen. Wir beschlossen, für einen Tag nach Mardin zu fahren. Der Weg dauerte nicht lange, nur eine Stunde. Man sagte uns, die Straßen seien unsicher und nach Einbruch der Dunkelheit dürfe man auf keinen Fall unterwegs sein, also beschlossen wir, morgens zu fahren und abends mit dem letzten Bus zurückzukehren. Der letzte Bus fuhr um fünf. Zu diesem letzten Bus um fünf habe ich noch eine andere Geschichte, die ich hier nicht erzählen, sondern für ein anderes Mal aufsparen sollte. Heimlich, ohne daß meine Familie es wußte, und verkleidet, damit keiner mich erkannte, war ich von Urfa aus vier Stunden nach Mardin gefahren, um dort meinen damaligen Geliebten zu treffen. Nachdem ich nur 15 Minuten mit ihm verbracht hatte, fuhr ich mit dem letzten Bus dieselbe Strecke zurück. Ich war 15 und hatte gerade begonnen, alle Wege zu gehen, die man aus Liebe auf sich nimmt. Jetzt, wo wieder vom letzten Bus die Rede war, wurde ich plötzlich schmerzhaft an jene Reise erinnert. Die Liebe war auf diesem Boden noch immer unmöglich. Auf diesem Boden war immer noch vieles unmöglich. Es war weder erlaubt, den Spuren der Kindheit zu folgen, noch sich im Wind der eigenen Liebe treiben zu lassen. Die durchlebten dunklen Tage warfen Schatten aufs Herz. Wo man sich auch hinwandte, stand die Erbarmungslosigkeit eines schmutzigen Krieges, seine offene oder heimliche Grausamkeit vor einem. Ich wußte es, die Kluft zwischen dem Osten und dem Westen der Türkei hatte sich niemals geschlossen, doch hier sah man, wie sie sich zuungunsten des Ostens Tag für Tag von neuem auftat.

Diyarbakir war nicht mehr das Diyarbakir, das ich aus meiner Kindheit kannte. Eine greifbare Spannung und Angst lagen in der Luft. Es war eine Kriegsstadt, wie ich sie nur aus Filmen kannte, die Menschen waren auf der Hut und beäugten sich mißtrauisch in den Straßen. Die Luft stand vor lauter geatmeter Gewalt und Wut. Es war unheimlich, man ging umher, als könne sich jeden Moment etwas Großes ereignen. Die Bar im Hotel Demir, wo wir abends ein Glas zu trinken pflegten, war voll mit fremden Gesichtern, türkischen und ausländischen, aber jedenfalls nicht von hier stammenden Menschen. Wieder fielen Filmschnipsel vor meine Augen, Bilder, die man in Istanbul nicht zu sehen bekam. Bilder vom Krieg, der über dem alltäglichen Leben der Stadt lag. Es war, als sähen wir einen Film, der in Libyen spielte. Als seien wir alle ausländische Journalisten und schlürften unseren Drink in der Lobby eines großen Hotels, in dem sich internationale Spione, Waffenhändler und Geheimpolizisten tummelten, und horchten auf die Geräusche von draußen. Es war zu fremd, um real zu sein. Ich rief meine Kindheitserinnerungen zu Hilfe: Immer wenn wir aus Mardin kamen, übernachteten wir im Hotel Demir, es war ein wichtiger Ort meiner Kindheit. Meine Erinnerungen daran bewahrte ich auf für meinen autobiographischen Roman Skizzenblock, in dem ich von meiner Kindheit und Jugend erzählte.

Wer meine Bücher gelesen hat, weiß, wie ich an meiner Kindheit und an Mardin hänge. Überall auf der Welt ist es bewegend und ein wenig traurig, wenn ein Mensch seinem Geliebten das Haus zeigt, in dem er aufwuchs, seine alte Schule, die Straßen, in denen er herumrannte. Mit schmerzender Nase, meist an seinen Schultern oder seiner Brust weinend, ging ich durch die Straßen. Ich hatte gehört, daß das Haus meiner Kindheit aufgeteilt und in drei getrennte Häuser umgebaut wurde. Seit Jahren träumte ich davon, an ihre Türen zu klopfen und das Innere dieser Häuser, ihre Gegenwart zu besichtigen. Es waren dunkle Träume. Jetzt stand das Haus vor mir, ein Teil der zerstückelten, verwandelten Geschichte. Da merkte ich, daß ich es in diesem Zustand gar nicht von innen sehen wollte, lieber sollte es für mich so bleiben, wie ich es aus der Kindheit kannte, so sollte es weiterleben. Ich machte auf der Schwelle kehrt, ohne zu klopfen. Danach klopfte ich nicht einmal mehr in meinen Träumen an seine Tür. Dann zeigte ich ihm meine Schule, die Grundschule von Dumlupinar. Meinen Schulweg. Die Häuser von Menschen, die ich liebte. Einige Balkone. Die Verwandten. Einige Orte, die er aus meinen Erzählungen kannte. Den Platz vor der großen Mauer des Gouverneurspalasts, wo mein Vater bei Versammlungen gesprochen hatte. Den Besitz meines Großvaters. Ferdovs. Deyrülzefaran. Die dunklen Tunnelgassen, wo ich um Mitternacht meine erste Liebe umarmte. Im Beben der Assoziationen erwachten Tausende von Bildern aus meiner Kindheit und frühen Jugend zu neuem Leben. Ich weinte, wie um mich rein zu waschen. Unsere Liebe wurde schöner, wir wurden schöner, wir versanken gemeinsam in die Zeit vor unserer Begegnung. Diese Stadt, die heute in einem schmutzigen Krieg hoffnungslose, dunkle, angstvolle Tage erlebte, war einst die unerschütterliche Festung unserer Jugend. Wir hatten hier mit dem Leben begonnen. Während ich die Mauern und Steine berührte, dachte ich an das Mardin vor Hunderten und Tausenden von Jahren, wie ich es aus Büchern und Erzählungen der Alten kannte. Nach so langer Zeit suchte ich mit verwandelten Augen nicht nur meine eigene Geschichte, sondern auch die Geschichte der Stadt. Die Zeit wurde knapp, wir mußten zurück. Aber ich wollte ihm alles, jede Straße, jeden Stein, zeigen. Kurz vor der Rückfahrt stiegen wir noch weit hinauf, bis zu den Häusern an den Hängen der Burg von Mardin. Wo die Straßen endeten und die Hänge der Burg anstiegen, waren neue elektrische Leitungen gespannt, die es in meiner Kindheit nicht gab. Die Hänge waren übersät mit den Verbotstafeln militärischer Sperrgebiete. Der Tod belagerte die Stadt. Wir spürten ständig auf uns geheftete dunkle Augen, die wir nicht sahen. Wir kehrten um und stiegen hinab ins Stadtzentrum, durch ein Viertel, in dem überwiegend Kurden wohnten. Da öffnete sich mühsam eine schwere, große Haustür. Ein drei- bis vierjähriges, blondgelocktes Mädchen mit blauen Augen und großen blauen Perlen um den Hals sprang über die Schwelle und stand plötzlich vor uns auf der Straße. Als das märchenhaft schöne Geschöpf uns sah, zögerte es. Dieser kurdische Engel schien das letzte Geschenk des sinkenden Tages; wir waren bezaubert. Ich beugte mich hinunter und wollte sie streicheln. Sie betrachtete uns mißtrauisch, dann wich sie ein paar Schritte zurück, rief „Polizei, Polizei!“ und lief davon. Sie hielt uns für Polizisten und hatte Angst. Welch eine Niederlage: Für dieses noch nicht fünfjährige kleine Mädchen war also jeder etwas städtisch Gekleidete ein Fremder und jeder Fremde ein Polizist. Welcher Racheengel hatte das wohl ausgeheckt, diese dramatische Begegnung nach so vielen Jahren, an solch besonderem Tag? Ich versuchte, mit feuchten Augen erst auf türkisch, dann auf arabisch zu erklären, daß wir keine Polizisten seien, aber sie verstand meine Sprache nicht und wollte mir nicht glauben. Betrübt floh sie vor uns. In ihren Augen lag ein tiefer Schmerz, wie er sonst nur an Erwachsenen, die viel erlebt haben, zu sehen ist. Schließlich verschwand sie wieder hinter der Tür, aus der sie gekommen war. Wir erstarrten. Allein dieser Vorfall, diese dramatische Begegnung, die mich zutiefst verwundete, hatte mir plötzlich alles begreiflich gemacht, was Hunderte von Zeitungsmeldungen und Fotos nicht zu vermitteln vermochten. Meine Vergangenheit und ihre Zukunft hatten sie beschmutzt.

Die Straßen, wo ich meine Kindheit suchte.

Dieses drei- bis vierjährige Mädchen mit den blauen Perlen.

Das war im März 1990. Seither bin ich nicht mehr nach Mardin gefahren. Es kam nicht dazu. Jetzt habe ich einen Traum: Das Mädchen mit den blauen Perlen soll heranwachsen, es soll eines Tages diesen Text lesen, soll sich verschwommen an jenen Tag und an mich erinnern und mir eine einzige blaue Perle schicken. Das wünsche ich mir für unser aller Zukunft.

Übersetzt von Deniz Göktürk