Die Vernichtung der Unordnung

Ein österreichischer Publizist machte sich auf, zwischen Wien und Istanbul die Grenze Europas und die Spuren der Angst eines bekannten Schriftstellers zu suchen, und entdeckt die Vielfalt an den Bruchzonen des Kontinents  ■ Von Thomas Schmid

Wenn ein Spanier nach Frankreich reiste, sagte er noch vor 30 Jahren, er fahre nach Europa, und für viele Kroaten ist es heute selbstverständlich, daß Serbien – anders als ihr eigenes Land – jenseits von Europa liegt, auf dem Balkan nämlich. Die Geographen haben es sich zu einfach gemacht, als sie festlegten, Europa ende an der Straße von Gibraltar und am Bosporus. Sie haben die Rechnung ohne den Wirt gemacht, die Grenzen unabhängig von Erfahrungen und Hoffnungen der Menschen gezogen. Lange Zeit ging Europa an der Pyrenäenkette zuende, und heute endet es an der Drina – oder schon gleich hinter dem Burgenland? Oder doch erst am Karpatenbogen?

Der Österreicher Rüdiger Wischenbart hat sich aufgemacht, die Grenze Europas zu suchen. Seine Reise führte ihn von Wien über Ungarn, Rumänien, Bulgarien, die Türkei, Griechenland, Serbien zurück nach Wien. Die Ergebnisse referiert er in einem Buch, das im vergangenen Jahr beim Klagenfurter Wieser Verlag erschienen ist und den kryptischen Titel „Canettis Angst“ trägt.

„Die übrige Welt hieß von dort aus Europa“, hatte der Schriftsteller Elias Canetti in seiner Autobiographie „Die gerettete Zunge“ geschrieben. „Dort“, das war Rutschuk, ein kleiner bulgarischer Marktflecken am Unterlauf der Donau, wo Canetti aufgewachsen war. „Eine wunderbare Stadt für ein Kind“, erinnert er sich, „an einem Tag konnte man sieben oder acht Sprachen hören.“ Da gab es nicht nur Bulgaren, sondern auch Griechen, Armenier, Zigeuner, Rumänen und Russen. Wunderbar für ein Kind, doch bedrohlich für einen Erwachsenen. „Die Tatsache, daß es verschiedene Sprachen gibt, ist die unheimlichste Tatsache der Welt“, schrieb Canetti, der als Sohn sephardischer Eltern, die mit türkischem Paß in der Dobrudscha lebten, zunächst Spanisch, dann Bulgarisch und schon mit 13 Jahren Deutsch erlernte, das seine in Wien ausgebildeten Eltern untereinander sprachen, wenn er nichts verstehen sollte.

Die Rettung seiner vielsprachigen Zunge nahm Canetti erst jenseits der Donau, jenseits der Grenze, in Europa, wahr. Erst aus der gewonnenen Sicherheit wird der verlorene Reichtum erkennbar. Vorher erscheint dieser vornehmlich als bedrohliches Chaos, als gefährliche Zerrissenheit, die Angst erzeugt. Wischenbart geht den Spuren dieser Angst Canettis nach und entdeckt die Vielfalt des Balkans. Hier an den Bruchzonen am Rande Europas, wo das Uneindeutige und Vermischte überwiegt, verfolgt er die Geschichte in der Gegenwart und nimmt diese zum Anlaß, über jene zu berichten. So kreuzen sich munter Reportage mit Essay, Bericht über das Gegenwärtige mit Kontemplationen über das Vergangene. Heraus kommt ein Reisebuch, das sich weder an Routen orientiert, noch die üblichen sachdienlichen Hinweise liefert, sondern sich dem Balkanreisenden einfach als Begleitlektüre empfiehlt.

Wischenbart entgeht der Versuchung, die balkanischen Verhältnisse zu verklären. „Die Liebhaber, die Vielsprachigen, die naturgemäß zu großzügig mit der Zeit umgehen, leisten Vorarbeit“, schreibt er und denkt wohl an Canetti und vielleicht auch ein bißchen an sich selbst, „dann werden sie von den Cliquen mit Machtbewußtsein zur Seite gedrängt. Für Zwischenräume und gemächliche Übergänge fehlen Raum und Zeit.“ Es sind die Cliquen, die die Unordnung vernichten und die Modernisierung durchsetzen. Die sogenannte „Systematisierung der Dörfer“, wie sie Rumäniens Conducator Nicolae Ceaușescu anging, ist nur ein extremes Beispiel für diese allgemeine Tendenz. Und die Modernisierung ist für ihre Opfer letztlich ein anderes Wort für den „Zwang, mit den Veränderungen irgendwie fertig zu werden“. Das Janusgesicht der Moderne bietet an den Rändern Europas dann oft nur zwei Perspektiven: die Lösung der Auswanderung oder die Erlösung in der Verabsolutierung des Eigenen und der Ausgrenzung des Fremden – den mörderischen Nationalismus.

An diesem Punkt wird das Buch verblüffend aktuell. „Was mit Sarajewo heute passiert“, stellt Wischenbart nüchtern fest, „geschah, zum Erschrecken ähnlich, mit der Welt des jüdischen Schtetl in Galizien. Auch die versank nicht von selbst, sondern wurde in den Abgrund gestoßen.“ Und auch die „ethnische Säuberung“ oder „nationale Homogenisierung“ stellt sich nun in einem größeren historischen Zusammenhang dar. Heute scheint uns selbstverständlich, daß Prag eine tschechische Stadt ist und Budapest eine ungarische. Das war nicht immer so. Prag war lange Zeit stärker deutsch und jüdisch geprägt als tschechisch, in Budapest war noch 1870 weniger als die Hälfte der Stadtbevölkerung ungarischer Sprache. Bukarest prägten bis in die Mitte des letzten Jahrhunderts Armenier, Griechen und Juden, und wie slawisch noch zur Jahrhundertwende Wien geprägt war, belegt ein Erlaß des Bürgermeisters Karl Lueger von 1900, wonach jeder, der das Heimatrecht anstrebte, einen Eid abzulegen hatte, wonach er „den deutschen Charakter der Stadt nach Kräften aufrechterhalten“ wollte.

Noch um die Jahrhundertwende gab es in Südosteuropa ein verschlungenes Muster aus Dörfern und Städten, „zwischen denen keine Kulturgrenze drei Fuß weit gerade verlaufen konnte“, doch nach dem Ersten Weltkrieg brach sich unter der Parole des „Selbstbestimmungsrechts der Völker“ ein Grenzregime Bahn, das zur Auflösung von Vermischung, zur Umsiedlung und Vertreibung in großem Stil führte. 1.200.000 Griechen wurden von der Türkei nach Griechenlang umgesiedelt, 120.000 Bulgaren aus Griechenland nach Bulgarien, 400.000 Ungarn aus Rumänien, Jugoslawien und der Tschechoslowakei nach Ungarn, 200.000 Türken aus Rumänien, Bulgarien und Jugoslawien in die Türkei, 150.000 Deutsche aus dem Balkan nach Deutschland und Österreich. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden wieder Bevölkerungsmassen verschoben, diesmal noch in gigantischerem Ausmaß: 2.700.000 Deutsche wurden aus der Tschechoslowakei nach Deutschland vertrieben, über vier Millionen Polen wurden mit den nach Westen verschobenen polnischen Grenzen ebenfalls nach Westen verschoben.

Was sich heute auf dem Balkan abspielt, ist in gewisser Weise – unabhängig von der Kriegsschuld – die Fortsetzung dieser Geschichte. „Übrig bleiben jene, die über ein eigenes Territorium mit festen Grenzen verfügen“, schreibt Wischenbart den bosnischen Muslimen ins Stammbuch, „die anderen kommen abhanden.“ Für sie ist dann Europa nicht einmal mehr eine interessante Fiktion, sondern „nur noch eine Bosheit, erdacht gegen jene, die bergauf zu rennen versuchen.“

Rüdiger Wischenbart, Canettis Angst, Wieser Verlag, Klagenfurt 1994, 310 Seiten, 42,80 DM