Vom Weiterleben großer Gestalten

■ Unmut über Indiens Premier Rao wächst / Kongreßpartei belebt Hoffnung auf Gandhi-Witwe Sonia oder ihre Tochter

„Rao hatao, Sonia lao!“ – „Raus mit Rao, holt Sonia zu Hilfe!“ ertönte es bei einem Treffen lokaler Politiker der regierenden Kongreßpartei Ende Dezember im nordindischen Bundesstaat Uttar Pradesh. Immer häufiger muß Premierminister Narasimha Rao solche Töne der Unmut vernehmen, seit er seiner Partei am Jahresende empfindliche Wahlniederlagen in vier Bundesstaaten beschert hat.

Kabinettsminister Arjun Singh trat aus der Regierung aus und begründete seinen Entschluss mit einer langen Liste von Vorwürfen: Rao sei nachsichtig gegen korrupte Regierungsmitglieder, habe zuviel Macht um sein Amt angehäuft, säkulare Ideale verraten, und das wirtschaftliche Reformprogramm werde auf dem Buckel der Armen durchgeführt.

Kurz nach Singh legte ein weiterer Gegner Raos, N. D. Tiwari, seinen Posten als Chef der Kongreßfraktion von Uttar Pradesh nieder. Und im südlichen Bundesstaat Tamil Nadu provozierte dessen Kollege Ramamurthy seine Entlassung, als er den geplanten Besuch seines Parteipräsidenten mit einem „Nicht erwünscht“ kommentierte. Doch wer gehofft hatte, daß der Premierminister damit endlich aus seiner scheinbaren Passivität gelockt würde, sah sich getäuscht. Rao hatte zwar, sofort nach Bekanntgabe der Wahlresultate, drei der Korruption mehr oder weniger überführte Minister entlassen. Eine in der Öffentlichkeit geforderte große Kabinettsumbildung gab es aber nicht. Als sich die Minister am Jahresende voller Bangen in die Residenz des Regierungschefs begaben, wurde aus der befürchteten Nacht der langen Messer eine fröhliche Silvesterfeier.

Das gleichmütige Gesicht des alternden Premiers täuscht aber nicht darüber hinweg, daß die „Sonia lao“-Rufe ihn mit Sorge erfüllen. Die Witwe des 1991 ermordeten Kongreßführers Rajiv Gandhi hütet sich zwar, Stellungnahmen zur Tagespolitik abzugeben. Aber sie hat sich mit großer Umsicht zur alleinigen Hüterin des politischen Erbes ihres Gatten gemacht.

„First Lady“ Sonia Gandhi

In einer Gesellschaft, in der die handfeste Einforderung demokratischer Rechte einhergeht mit dem Glauben an das Weiterleben großer Gestalten, enthält diese dynastische Verbindung politische Sprengkraft. Frau Gandhis Gewicht läßt sich etwa daraus ermessen, daß sie täglich Kongreßpolitiker jeder Couleur empfängt und daß auch die Regierung sie quasi als „First Lady“ einstuft: Jeder Staatsgast findet einen Fototermin mit ihr in seinem Besuchsprogramm, und bei jedem Staatsakt ist ihr ein Ehrenplatz reserviert.

Die meisten InderInnen sind unschlüssig, ob die Gandhi-Witwe selber politische Ambitionen hegt oder die Optionen für ihre Tochter Pryanka offenhält, die 1996 25jährig wird und damit für einen Parlamentssitz kandidieren darf. Währenddessen bleibt sie aber eine ideale Sammelfigur für Oppositionsströmungen innerhalb der Partei. Die Kongreßpartei, so heißt es vor allem nach Niederlagen, könne nur mit einer Person von der Anziehungskraft einer Gandhi Wahlen gewinnen.

Auch Narasimha Rao gehört zu den Politikern, die Sonia regelmäßig ihre Aufwartung machen. In letzter Zeit aber hat er begonnen, sich von ihr zu distanzieren. Dazu gehört etwa die schleppende Kooperation bei der Aufklärung des Gandhi-Attentats, und auch das Schwert des Bofors-Rüstungsskandals läßt Rao weiterhin über den Köpfen des Gandhi-Clans baumeln. Die kleinen Nadelstiche haben „Janpath 10“ – die Residenz der Witwe – offenbar so erzürnt, daß sie nach der Wahlniederlage im Süden erstmals demonstrativ den Rebellen ihr Gehör lieh. Rao ließ sich nicht einschüchtern. Laut der Zeitung Jansatta teilt er die Überzeugung vieler Inder, daß die scheue Ex-Italienerin in der unnachsichtigen und intrigenreichen Polit-Arena Indiens keine Chancen habe.

Dennoch zeigen die Pfeile, die hinter dem Rücken der dynastischen Symbolfigur hervorschießen, daß die nächste Prüfung für Rao entscheidend sein könnte. Diese steht vor der Tür: Im Februar und März finden in fünf weiteren Bundesstaaten Wahlen statt, die letzten vor der Parlamentswahl 1996. Bernard Imhasly