Ein offener Brief an Jassir Arafat

■ Der palästinensische Journalist Bassam Eid zum - inzwischen aufgehobenen - Erscheinungsverbot der Zeitung "An-Nahar"

Ohne freie Meinungsäußerung gibt es keine Menschenwürde. Wird diese Freiheit nicht respektiert, wird auch die Menschenwürde mißachtet. Die Entscheidung des Präsidenten der palästinensischen Befreiungsorganisation PLO, Jassir Arafat, die Zeitung An-Nahar in den palästinensischen Gebieten zu verbieten, ist ein schwerer Angriff auf die Menschenrechte und läßt für die Demokratie in einem zukünftigen palästinensischen Staat Schlimmes befürchten. Seine Entscheidung ist um so beunruhigender, als die Presse heute eine ganz wesentliche Rolle im Kampf um die Menschenrechte spielt.

Die Gründe für das Verbot von An-Nahar sind bisher nicht befriedigend dargelegt worden. Von seinem Balkon sieht Präsident Arafat auf die Stadt Gaza. Es handelt sich für ihn, so sagt er, um ein administratives Problem, das gelöst sein wird, sobald An- Nahar eine Vertriebslizenz hat. Auf der anderen Seite der Berge, in Jericho, sitzt der palästinensische Sicherheitschef Jibril Rajoub und behauptet, An-Nahar werde nie wieder eine Lizenz bekommen. Und der Minister für Kommunikation, Jassir 'Abd Rabbo, versucht, Kritiker des Verbots mit der unsinnigen Behauptung zu beschwichtigen, er sei nicht konsultiert worden. Weitere Schlüsselfiguren in diesem Drama sind Nabil Sha'ath, der die Entscheidung seines Chefs nur halbherzig kritisierte, und Nabil Abu Radeina, Arafats Medienberater, der erklärte, daß An-Nahar ohnehin keine richtige Zeitung sei. Wie hat er das gemeint?

Ich möchte Ihnen an dieser Stelle, mein Herr, folgende Frage stellen: Können Sie sich einen Zeitpunkt vorstellen – vielleicht, wenn alle sonstigen Probleme der autonomen palästinensischen Territorien gelöst sind –, an dem die Lizenz für An-Nahar eine simple Verwaltungsmaßnahme wird?

Ich wurde nach einem Radiointerview scharf kritisiert, weil ich die Position vertrat, daß die internationale Hilfe für die palästinensischen Gebiete so lange gestoppt werden solle, bis das Verbot von An-Nahar aufgehoben sei. Man hielt mir vor, daß darunter Tausende von hungernden Bewohnern Gazas leiden würden. Wenn das Wohlergehen des palästinensischen Volkes allerdings wirklich Ihre Hauptsorge ist, Herr Präsident, wäre es da nicht das beste, das Verbot der Zeitung aufzuheben? Denn auch bei uns in der Zeitung geht es für viele Familien um ihren Lebensunterhalt.

Und ich habe noch eine zweite Frage: Wie kommt es, daß ausgerechnet An-Nahar eine Drucklizenz in Jerusalem braucht, während keine andere Zeitung, weder palästinensisch noch israelisch, eine solche benötigt?

Unter uns gesagt, Herr Präsident, sehr erstaunt hat mich das Verbot nicht. Was mich allerdings erstaunte, war, wie schnell es kam: Zwei Wochen nach Ihrer Ankunft in Gaza. Das war ganze Arbeit! Und ich bin mir sicher, daß niemand Ihre Entscheidung hätte umwerfen können.

Unser Land ist noch sehr jung. Ich weiß nicht, ob das palästinensische Volk schon begriffen hat, wie wichtig eine freie und unabhängige Presse ist. Und ich weiß auch nicht, warum die Tageszeitung Al-Quds über das Verbot von An-Nahar nichts hat verlauten lassen. Könnte es sein, daß Al-Quds bis heute die Rivalität, die seit der Gründung von An- Nahar 1987 existiert, nicht recht überwunden hat? Al-Quds hätte sich im Namen einer freien und unabhängigen palästinensischen Presse für An-Nahar aussprechen müssen. Es hat mich auch schockiert, daß die palästinensischen Menschenrechtsorganisationen geschwiegen haben. Ich möchte sie gerne fragen, wie lange sie ihre Komplizenschaft aufrechtzuerhalten gedenken.

Auch die Journalistenvereinigung hat sich nicht gerührt. Als ich dort anrief, um herauszubekommen, warum sie keinen Ton von sich gibt, sagte man mir, die Vereinigung existiere schon seit einem Jahr nicht mehr.

Das Verbot von An-Nahar wird nur der erste Angriff auf unsere Rechte sein. Und es wird schwierig, wenn nicht sogar unmöglich, die Verletzung unserer Rechte aufzulisten und dagegen zu protestieren, wenn wir keine unabhängigen Medien mehr haben, in denen man ohne Angst vor Repression seine Meinung sagen kann.

In vielen Kommentaren der europäischen Presse wurde das Verbot von An- Nahar klar verurteilt. Und die Autoren haben, etwas naiv, gemeint, das seien wohl die Verhältnisse der „neuen Ära“.

Mir sind öffentliche Erklärungen nicht so wichtig. Worum es mir geht, ist Macht und Einfluß der Journalisten, wenn sie unbehelligt und ohne Zögern die Wahrheit schreiben können. Und ich glaube auch nicht, daß europäische Leitartikelschreiber viel Einfluß auf unsere politische Führung haben. Wenn das die „neue Ära“ sein soll, die man uns versprochen hat, dann möchte ich klarstellen: Ich gehöre zu den Palästinensern, die nur zögernd in sie eintreten und mit schwerem Herzen.

Hochachtungsvoll, Ihr Bassam Eid

Am 5. September 1994 erschien „An-Nahar“ wieder an den Kiosken. Eine Erklärung auf der ersten Seite meldete, daß der frühere Chefredakteur Osman al-Anani das Blatt verlassen habe. Al-Anani war immer ausgesprochen projordanisch, und das Verbot seiner Zeitung war wenige Tage nach der Unterzeichung des Friedensabkommens zwischen Israel und Jordanien ausgesprochen worden; die PLO hatte mit Verärgerung auf den israelisch-jordanischen Vertrag reagiert. Die erste Nummer nach dem Verbot bezeichnete Arafat als „Der Bruder, der Führer, das Symbol“ und bezog sich mit keinem Wort auf die Frage der Lizenz.