Manche treffen auf Falken

Eine Kurzgeschichte aus Istanbul  ■ Von Feride Çiçekoglu

Vom Deck aus schaue ich zum Pier. Das weiße Schiff muß kämpfen, um das eine mit dem anderen Ufer der Stadt zu verbinden. Ist das Wirklichkeit oder nur ein Traum? Ich habe in der Vergangenheit so oft von diesem Moment geträumt! Wenn die Wasserpfütze auf dem Gefängnishof mit der Sonne auf dem Eisentor spielte, wenn ein schwacher Modergeruch unsere Nasen streifte, beim Hofgang, hin und zurück... „Nermin, schau. Wenn wir da hinten langfahren, riecht es nach Seetang.“ „Ich rieche nichts.“ – „Atme gleich mal tief ein, okay, jetzt!“ – „Du hast recht. Wahrscheinlich hat eine ihre Laken modrig werden lassen.“ – „Wessen Laken, meine Liebe?“ – „Von Ayse, dem Ferkel, von wem sonst? Sie schreibt immer nur an ihren Liebsten und hat keine Zeit, ihre dreckige Unterwäsche zu waschen... Diese Ehebrecherinnen sollte man...“ – „Hör auf, Döndü... Wie oft hab' ich dir gesagt, was eine hierherbringt, ist Privatsache.“

Das Meer, das wir im Geruch feuchter Laken fanden, da ist es jetzt. Schaum und Abfälle. Fische, die sich darin verfangen haben; auf dem Steg wird Makrele in altem Öl gebraten, Popsongs in voller Lautstärke, lahmacun mit viel Zwiebeln, Essig, gekochter Mais, Plastiksandalen, billige Hemden. Und dann die Menschen, die sich gegenseitig fast zerdrücken und eilig zum Ausgang drängen. So furchtbar in Eile können sie nicht sein, denn sobald ihre Füße den Steg berühren, werden sie langsamer. Drängeln, um erster zu sein, gilt als tüchtig, wer zurückbleibt, wird mit Seitenblicken bedacht: geschieht ihnen recht! „Eiskaltes Wasser, Geld zurück, wenn es dir nicht die Zähne vereist...“ Der Behälter des Wasserverkäufers ist bunt bemalt. Pferdekutschen, Lastwagen, Schuhputzstände, Wassertanks... Alle haben sie die gleiche Bemalung, alle sprechen die gleiche Sprache. Stilisierte Blumen, dazu die Sprüche. Die Wünsche des Wasserverkäufers, um ihn herum drapiert: „Die Unerlösbaren“, „Seid nicht schüchtern, Mädchen“, „Schicksal, laß mich...“ Er will gar nichts von der Zukunft; er will schlicht nicht belästigt werden. „Schau nicht immer nur zu Boden, meine Liebe, so ganz in Gedanken verloren. Es war dir doch so wichtig, hierherzukommen... Schau, da hinten ist die neue Moschee.“ Anadolukavagi, Kalamiș Emirgan, die Neue Moschee... Haben sie was geändert, oder bin ich im Gefängnis so anders geworden? In Anadolukavagi gab es eine geflieste Toilette, nahe am Anlegesteg, gegenüber dem großen Platz. Auf der anderen Seite war eine Bäckerei; eine riesige Platane überschattete den ganzen Platz. Eine Toilette mit türkischen Kacheln, Meerwasser überspülte den Fußboden mit sanften Wellen. Immer wenn meine Familie an den Besuchstagen aus Istanbul kam, fragte ich nach ihr wie nach einer alten Bekannten.

„Ist die Toilette in Anadolukavagi noch da?“ – „Natürlich, wie immer.“ Nachdem ich entlassen wurde, ging ich hin und fand keine Spur mehr von ihr; sie hatten es mir verschwiegen, wie den Tod eines Familienmitglieds.

„Da – du hast die Tauben doch immer so vermißt – da sind ganze Schwärme...“ Im Hof der Moschee sind Tauben, Flügel an Flügel. Die Sonne auf ihren Hälsen färbt sich rot-grün. Tauben, die mit den Flügeln schlagen und mit kleinen Schritten hin und her trippeln, Weizenkörner vom Boden pickend. „Streut ihnen einen großen Teller hin, und ihr werdet gesegnet sein... Möge Gott euch beide nie trennen!“ Die Frau, die den Weizen verkauft, ruft zu dem jungen Pärchen hinüber, das sich Hand in Hand nähert. Und sie beeilen sich wirklich, sich, wie sie glauben, lebenslanges Glück für einen Teller Weizenkörner zu sichern. Um ganz sicher zu gehen, kaufen sie einen großen Teller. Das Mädchen streut die Körner schwungvoll in die leere Ecke des Hofes.

Die Sonne scheint auf die ausgebreiteten, schlagenden Flügel. Die Tauben stürzen sich auf das Futter, behindern sich gegenseitig. Sie versperren dem Sonnenlicht den Weg, das zwischen ihren Leibern einen Weg zum Boden sucht. Ein Weizenkorn picken, der erste sein, der auf den Steg springt. Auf diesem riesigen Hof, auf den Flügeln von hundert Tauben findest du nicht den Bruchteil der Freude, die eine einzige Taube in einen 13 Meter langen Gefängnishof bringt.

„Fadik, komm schnell, da auf dem Dach.“ – „Oh, ja!... Das erste mal eine weiße Taube.“ – „Und das am Besuchstag... Da wird eine gute Nachrichten bekommen.“ – „Einen Brief...“ – „Das ist nur für die, die Briefe kriegen.“

Einen Augenblick lang hast du das Gefühl, daß die weiße Taube, die die Sonne auf ihren Flügeln trägt, nicht von derselben Art sein kann wie diese Horde, die das Licht zertrampelt. „Du wolltest doch so gerne die Tauben sehen; bist du fertig, war das alles?“

Neben der Moschee eine Reihe Läden. Darin alle möglichen Tiere. Fische hinter Glas, Vögel hinter Draht, Kaninchen in Käfigen. Pflanzen, Samen, Tierfutter.

Und dann zwei dunkle Augen. Sprühend, blinkend. Blitze. Schmerzerfüllt, oder kommt mir das nur so vor? Kettenringe um die Fußgelenke. Eine Gruppe Menschen um ihn herum. Dreht seinen Kopf nach links und nach rechts, als ob er sich den Blicken der Zuschauer entziehen möchte. Mit jeder Drehung seines Kopfes gleiten die Federn an seinem Hals übereinander. Ich fühle den Drang, ihn zu kaufen und freizulassen. „Wieviel kostet der Falke?“ – „Fünfundzwanzigtausend.“

Die Ringe um seine Fußgelenke sind mit einer Kette an einem Taubenkäfig befestigt. Sieht aus, als hätten sie ihn nicht in einen Käfig sperren wollen. Wer die Kettenringe nicht sieht, wundert sich, warum er nicht wegfliegt. Er wirkt so frei, mit seinem Blick, seiner Haltung. Und die Tauben im Käfig? Sie bewegen ab und zu ihre Flügel und tauschen die Plätze. Dann ziehen sie wieder die Köpfe ein und schlafen. Dicht an dicht wie Sardinen in der Büchse. Man weiß nicht, wem welcher Flügel, welches Bein gehört. Sie sehen völlig uninteressant aus. Sie haben keinen Charakter. Sie haben sich daran gewöhnt, im Käfig zu leben, Augen wie tote Fische.

Der Ausdruck stammte von einem Offizier im Militärgefängnis. Ich haben ihn behalten. „Früher haben eure Augen geblitzt, und meine Soldaten hatten Augen wie tote Fische. Das wird sich ändern: ab jetzt werdet ihr wie tote Fische gucken.“

Der Junge, der den Falken aus sicherer Entfernung mit einem Stock ärgert... Er hat weit auseinanderstehende, faulige Zähne. Seine Bosheit spiegelt sich in seinem Gesicht. Nimm ihm die Ketten ab und kämpfe richtig mit ihm, wenn du den Mut hast! Oder gehe wenigstens näher an ihn heran... Natürlich nicht! Seine Augen haben genau die Länge der Kette im Blick, die den Vogel an den Käfig fesselt. Aus sicherer Reichweite schubst er den Falken mit seinem Stock.

„He, Alter... Guck mal hierher!“ Der Falke kümmert sich nicht darum. Schaut weiter in die Ferne. Seine Gleichgültigkeit ärgert den Jungen mit dem Stock. Ich denke, daß der Falke angewidert ist von solchem Mut angesichts von Ketten, solchem Heldentum gegenüber einem Gefangenen. Oder bilde ich mir das nur ein? Nein – schließlich ist er ein Falke!

„Guck hierher... He, Alter, du sollst hierher gucken!“ Der Junge neben ihm meint: „Der hat keine Angst vorm Stock. Wir sollten ihm ein Stück Brot hinwerfen. Vielleicht sieht er dann zu uns her.“

Hungerstreik im Militärgefängnis. Ungefähr der neunte Tag. Während des Zählappells lutscht einer der Wächter an einer Zitrone, ein anderer schlürft laut seinen Tee. Sein Haar wird schon grau. Man sollte denken, daß er menschlicher sein könnte. Der Befehlshabende hat ein sehr rotes Gesicht. Er läßt sich auf dem Korridor Fleischbällchen braten und kaut sie dann demonstrativ.

„Warum laßt ihr das Tier nicht in Ruhe! Schämt ihr euch nicht?“ – „Das geht dich gar nichts an.“ – „Das Vieh gehört doch nicht dir, Madame. Was mischt du dich ein?“ – „Komm, laß. Mit denen kann man doch nicht reden. Laß uns gehen.“ Ich will nicht von hier weggehen. Ich sehe dem Falken in die Augen. Ich wünsche mir, klein genug zu sein, um unter seine Lider zu sehen. Und daß er dann seine Augen schließt, so daß alles: die Leute, die sich gegenseitig beiseite stoßen, die Straßenverkäufer, die schreckliche Musik, das Meer voller Abfälle, der Junge mit dem Stock, daß alles draußen bleiben müßte, und ich wäre drinnen. Ich schaue den Falken an, als wollte ich ihn durchdringen, als würde ich schmelzen und in seine Augen fließen.

Und plötzlich werde ich heftig geschlagen. Auf meinem Gesicht ein brennendes Gefühl, ein scharfer Schmerz auf Wangen und Kinn. Flattern um meinen Kopf, Flügelschlag in meinen Ohren. Die Leute um mich herum schreien und lärmen. Bevor man es recht begriffen hat, ist der Falke schon wieder zurück und sitzt an seinem Platz. „Ach du liebe Güte, das hat er noch nie gemacht. Sind Sie verletzt, mein Fräulein? Möchten Sie vielleicht einen Schluck Wasser?“ – „Dein Gesicht blutet, meine Liebe. Warum hast du den Falken so angestarrt? Nimm das Taschentuch, Tut es sehr weh?“ – „Siehst du, du hast versucht, ihn vor uns zu schützen, und jetzt hat er dich sogar angegriffen!“

„Laß uns teilen, Kumpel. Uns kratzt höchstens mal 'ne Katze. Aber die Mieze ist was Besonderes, sie traf auf einen Falken.“

Feride Çiçekoglu ist Schriftstellerin und zur Zeit Generalsekretärin der türkischen „Stiftung für Film, Audiovision und Kultur“. Sie war selbst einmal im Gefängnis. Die Geschichte erschien zuerst im Kurdischen Reader des türkischen PEN im September 1994.