Schirm & Chiffre
: Anziehung des Papiers

■ Zwei grundverschiedene Gratisstadtzeitungen

Letzthin schnappte ich ein Gespräch auf. In einer Runde von Medienschaffenden debattierten ein Grafiker und ein aufstrebender Online-Publizist über die Zukunft der Zeitung.

Die Macht des Papiers sei ungebrochen, rief der Grafiker aus: „Gegen die konkrete haptische Erfahrung kommen alle elektronischen Datenströme nicht an. Was ist schon der flüchtige Tanz der Pixel auf einem Monitor im Vergleich mit der tröstlichen Beständigkeit einer Zeitungsseite!“ Der Onliner lächelte nur sardonisch, zückte dann sein Message-Pad und zauberte daraus behende ein Zitat irgendeines postmaroden Medientheoretikers hervor, das dunkel das Verschwinden des Realen verkündete.

Aber das nur zum Einstieg. An die Macht des Papiers glauben offenbar auch die MacherInnen von [30]. Die Vorwahlnummer steht für das bunte Gratis- Programmheft, das seit drei Monaten überall in der Stadt herumliegt. 100.000 Exemplare läßt der Lloyd-Presse-Verlag (Zweite Hand u.a.) alle 14 Tage ausstreuen. Nicht zu seinem Schaden, wenn man Olaf Alp glauben darf, der als [30]-Marketingleiter schon mal eine „total positive Zwischenbilanz“ zieht. Immerhin – der letzte Versuch, ein kostenloses Programmheft in Berlin zu etablieren, ging gründlich schief. Die Wiese endete vor Jahren im betrügerischen Bankerott. Die Jungs und Mädels von [30] (hier ist keineR über 30) wissen, wie man es besser „aushirnt“.

Erst einmal studierten sie die Allensbacher Marktanalyse über „Die jungen Städter“. Dann entwickelten sie ein Konzept, das genau auf die Bedürfnisse dieser urbanen Twentysomethings zugeschnitten sein sollte. Herausgekommen ist – wen wundert's – ein technoides Trend-Heftchen, „randvoll mit den innovativsten Modeneuheiten, neuen Filmen, CDs, Konzerten und jeder Menge Partytips“ – nebst jeder Menge Werbung natürlich. Irgendwo muß der Schotter ja herkommen.

Oder auch nicht. Die sympathische Gratisgazette für die Innenstadtbezirke, scheinschlag, ist in akuter Geldnot. Bislang finanzierte sich die Zeitung (Auflage: 27.000) hauptsächlich über eine „Sanierungsbeilage“, die vom Bezirksamt Mitte gefördert wurde. Doch der scheinschlag, (der vor vier Jahren ursprünglich mal steinschlag hätte heißen sollen, was dann aber politisch zu gewagt erschien) ist mehr ein Kiezblättchen zur Stadtentwicklung. scheinschlag ist subkulturelles Geschenkpapier der feineren Art. Ein begnadeter Kolumnist schreibt hier über Herne und das Tragen von Westen im Osten. Dazu gibt's eine kleine Prosaübung über Brustamputation aus Männersicht, holpernde Theater- und Kinokritiken sowie das schönste Impressum Berlins. Die Veranstaltungsreihen heißen „augenfutter“ oder „politik und so“. Werbung gibt's nur wenig. Und genau das ist das Problem. „Die Finanzen sind ein ganz trauriges Kapitel“, seufzt scheinschläger Christof Schaffelder. („Ich habe geerbt.“) Nach den Mittelkürzungen des Bezirksamtes braucht das Blatt mehr Anzeigen. Ich finde, die sollte es bekommen.

Allein schon, um die Macht des Papiers nicht vorschnell preiszugeben. Martin Muser