"Ich bin ja hier der Realpolitiker ..."

■ Der neue Sprecher von Bündnis 90/ Die Grünen, Jürgen Trittin, zur Außenpolitik der Partei, zum Verhältnis von Bundesvorstand und Fraktion und zu den Hoffnungen auf einen baldigen Machtwechsel...

taz: Was halten Sie von folgenden Zitaten: „Wir müssen begreifen, daß es jeden einzelnen von uns angeht, wenn in dieser Welt Völkermord begangen wird, Menschenrechte mit Füßen getreten werden oder Menschen verhungern, während in Europa Milliarden zur Vernichtung von Lebensmitteln ausgegeben werden.“ Zweitens: „Man muß in der Außenpolitik die Moral mit den Interessen verknüpfen und beispielsweise fragen: Was sind die Interessen Deutschlands auf dem Balkan?“

Trittin: Nun ja, das ist beides von so gnadenloser Allgemeinheit, daß man gar nicht dagegen sein kann.

Sie sind also auch der Meinung, daß es in der Außenpolitik nicht nur um Menschenrechte, sondern auch um Interessen, also auch um deutsche Interessen geht?

In der Realität geht es um Interessen. Es ist der große Fehler in der ganzen Bosniendebatte, daß man geglaubt hat, Soldaten würden losgeschickt, um abstrakten Rechten zum Durchbruch zu verhelfen. Das hat es in der ganzen Geschichte, übrigens auch im Zweiten Weltkrieg, nicht gegeben. Was es geben kann, ist eine vorübergehende Deckungsgleichheit zwischen nationalen Interessen und dem Kampf gegen ein verbrecherisches Regime. Das erst einmal festzustellen – man muß es sich ja damit nicht zu eigen machen – gehört zu einer realistischen Sicht der Dinge, die notwendig ist, wenn man Außenpolitik machen will.

Heißt das, daß Grüne sich demnächst daran beteiligen werden, deutsche Interessen in der Außenpolitik zu definieren?

Menschenrechtspolitik und Interessenpolitik müssen nicht unbedingt ein Gegensatz sein. Aber für Grüne wird Menschenrechtspolitik immer im Mittelpunkt stehen – deswegen treten wir ja auch für eine außenpolitische Konzeption der Selbstbeschränkung ein, auch unter Zurückstellung der eigenen nationalen Interessen. Das ist aber etwas anderes als Menschenrechtsinterventionismus um jeden Preis. Das wird nicht funktionieren.

Das ist ja der eigentliche Konflikt zur Zeit: Kann man eine Menschenrechtspolitik machen, die im Extremfall auch militärisch durchgesetzt wird?

Die Vertreter dieser Politik machen einen Denkfehler. Sie unterstellen, daß es im Völkerrecht, vergleichbar dem innerstaatlichen Recht, eine allgemein anerkannte, legitimierte Instanz gibt, die das Monopol auf den Einsatz von Gewalt hat. Das ist ja nicht der Fall, auch dann noch nicht, wenn man es lautstark einklagt.

Aber es gibt ja die Möglichkeit, Schritte in diese Richtung zu forcieren. Zum Beispiel indem man, wie von Butros Ghali jetzt angeregt, bestimmte Truppenkontingente zur Verfügung der UNO bereitstellt.

Der Denkansatz ist ja sympathisch, die betroffenen Großmächte werden aber nicht darauf eingehen. Insofern ist das Ganze eine mehr oder weniger akademische Fragestellung. Die Frage ist doch: Denken wir uns die Welt schön, oder machen wir Realpolitik? Ich habe den Eindruck, daß diejenigen in unserer Partei, die einmal als Realpolitiker gelten wollten, hemmunglose Idealisten geworden sind und sich die Welt schöndenken. Ich bin ja Realpolitiker, ich denke, wir sollten uns mehr auf Dinge konzentrieren, wo wir vielleicht tatsächlich etwas machen können. Viel mehr als die UNO- Geschichten interessiert mich zur Zeit, wie es gelingen kann, die Einbindung der Bundesrepublik in ein europäisches System kollektiver Sicherheit hinzukriegen. Das hat etwas zu tun mit Maastricht II und dem Pfeiler europäischer Außen- und Sicherheitspolitik. Beteiligen wir uns daran, der EU einen militärischen Flügel anzuhängen, der sich dann auch gegen unsere östlichen Nachbarn wendet, oder gibt es den Versuch, ein europäisches Sicheitssystems auf der Basis der OSZE aufzubauen? Das ist für mich die vordringliche Frage.

Sie haben in der UNO-Frage den Idealismus grüner Politiker gegeißelt. Ist die Hoffnung auf die OSZE nicht genauso idealistisch?

Die OSZE ist noch nicht die Organisation, die wir brauchen, aber dennoch ist der Ansatzpunkt richtig, weil die OSZE die einzige Organisation ist, die nicht aus der Konfrontation entstanden ist und deshalb auch keine Kampfansage an Rußland darstellt.

Die Hoffnung auf die OSZE ist aber ungefähr genauso realistisch wie die Hoffnung auf die UNO.

Nein, ich sehe da schon Unterschiede. Die OSZE hat funktionierende Konflikregelungsmechanismen, die man ausbauen kann. Es gibt in Europa keinen anderen Ansatz, der unter Berücksichtigung der jeweiligen nationalen Interessen versucht, Sicherheit für alle herzustellen.

Was sagen die Grünen den osteuropäischen Staaten wie Polen, Tschechien, den baltischen Staaten und Ungarn, die alle Nato-Mitglieder werden wollen. Was sagen Sie denen?

Es wird in Europa gegen Rußland keine Sicherheit geben. Das ist eine Banalität. Wer ein militärisch aufgebautes Großrußland will, der muß nur die Nato ostwärts verlegen. Das ist nun wirklich der Auftrieb für die Militärs, die Dikatoren, für die autoritäre Lösung in Rußland.

Der Einmarsch in Tschetschenien war nun nicht gerade dazu angetan, die Ängste in Polen zu beschwichtigen. Meinen Sie, die OSZE könnte Polen schützen?

Glauben Sie im Ernst, Polen wäre durch Rußland bedroht? Die subjektiven Ängste sind da, aber dafür gibt es keine reale Grundlage.

Die aktuelle Frage ist auch weniger Polen als vielmehr das sogenannte „nahe Ausland“, beispielsweise die Ukraine. Die OSZE wäre niemals in der Lage, die nationale Souveränität der Ukraine zu garantieren.

Die Nato doch auch nicht, das wissen sie doch auch. Es gibt dafür keine Garantie, und zwar deshalb, weil sich niemand auf einen atomaren Konflikt wegen der Ukraine einlassen würde. Eben weil es keine nationalen, westlichen Interessen gibt, die Ukraine vor einem solchen Zugriff zu schützen. Das ist bitter, aber es ist so. Deshalb bleibe ich dabei, es gibt keinen anderen Weg als den Versuch der friedlichen Konfliktlösung, und das geht nur unter Einbeziehung Rußlands. Die deutsche Außenpolitik war an diesem Punkt schon mal weiter. Das heißt nicht, daß man Rußland nicht kritisieren darf. Im Falle Tschetschenien wäre ein hartes Wort unter Freunden schon lange fällig gewesen.

Wieweit ist das, was Sie jetzt sagen, eigentlich auch Position der grünen Bundestagsfraktion? Anders gefragt, gibt es immer noch eine Arbeitsteilung dahin gehend: Die Fraktion ist zuständig für Kompromisse, der Parteisprecher für die Wahrung grüner Identität?

Meine bisherigen Erfahrungen sind anders. Die gemeinsamen Gremien, in denen die Abstimmung zwischen Partei und Fraktion vonstatten geht, funktionieren gut. Was die Kompromisse angeht – erst jüngst hat der Bundesvorstand die Fraktionsführung gedrängt, die Spielräume, die das Bundesverfassungsgericht in seinem letzten 218-Urteil offengelassen hat, durch einen eigenen Gesetzentwurf besser auszuloten, statt immer nur die bestehenden Entwürfe anderer Parteien abzulehnen.

Arbeitsteilung muß ja nicht unbedingt Konfrontation sein...

Um es mal deutlich zu sagen: Ihre Unterstellung, die Fraktion macht die Realpolitik, und der Parteivorstand kommentiert hinterher, die Zeiten sind vorbei. Ansonsten ist die Partei zuständig für die programmatische Linie und die Fraktion für die tägliche Umsetzung.

Welche programmatische Linie vertritt die Partei in der Schwarz- Grün-Debatte?

Erste Parole dabei ist Gelassenheit. Jeder, der sich in der Politik ein bißchen auskennt, weiß, daß es für die Bildung von Koalitionen zwei Grundvoraussetzungen gibt. Erstens gibt es für die zeitliche Dauer einer Legislaturperiode ein programmatisches Fundament, auf dem eine Koalition handlungsfähig ist. Ich kenne niemanden in der Partei, der da in den nächsten Jahren auf Landes- oder gar Bundesebene eine Möglichkeit sieht. Das zweite ist die Frage nach den Milieus beziehungsweise den Überschneidungen von Milieus. Es gibt in unseren Hochburgen ein hochsensibles, seismographisch reagierendes Milieu, das jenseits programmatischer Fragen sagt, wer mit der CDU anbändelt ist igitt – egal was dabei herauskommt. Diese emotionale Befindlichkeit in unserer Stammklientel, da, wo wir Wahlen gewinnen, und da, wo wir Wahlen verlieren, die sollte man nicht zu gering einschätzen. Vor allem in einer Situation, wo es unter manchen Leuten, die nun wahrlich nicht zu den Benachteiligten in der Gesellschaft gehören, die Tendenz gibt, ziemlich luxurierend ihre Bekenntnisse auszuleben.

Sie befürchten, daß die grün- schwarze Debatte eure Stammklientel dazu verleitet, aus Trotz auch mal PDS zu wählen?

Teile davon, ja. Das ist so. Wenn durch diese Debatte eine Verunklarung unserer Inhalte entsteht, dann besteht diese Gefahr.

Gilt das auch im Osten?

Es hat auch im Osten etliche Stimmen gegeben, die die Schwarz-Grün-Debatte in Sachsen als Ursache für das schlechte Abschneiden der Grünen anführen – wie es umgekehrt Leute gibt, die dasselbe von der Koalition in Magdeburg sagen. Unser Hauptproblem im Osten ist aber nach wie vor, daß uns das Image einer Westpartei, die von außen kommt, anhängt und daß es sehr schwer ist, mit Landesverbänden, die, außer in Sachsen, jeweils unter 500 Mitglieder haben, daran schnell etwas zu ändern. Die Grünen sind im Osten überwiegend medial vermittelt, als Partei der Bürgerrechtler – was ich übrigens eher als einen Pluspunkt verstehe, das ist sehr respektabel – oder als die Partei der Birkenstocklatschen – das entspricht meistens nicht der kommunalen Realität.

Das eigentliche Problem der Grünen im Osten ist doch, daß es für sie im Moment keine gesellschaftliche Entsprechung gibt. Die Rächer der Enterbten sind die PDS, die Vertreter der Einheitsgewinner die CDU und die pragmatischen Kämpfer gegen den Sozialabbau die SPD. Wo bleiben da die Grünen?

Wir werden in der Tat in absehbarer Zeit im Osten keine zweistelligen Wahlergebnisse haben, und ich laufe auch nicht herum und verkünde, das ließe sich schnell ändern. Wie die Situation aussieht, werden wir Zeit brauchen, um über 5 Prozent zu kommen, und lange unter 10 Prozent bleiben.

Welche Konsequenzen hätte es für die Grünen, falls die FDP bei den beiden kommenden Landtagswahlen scheitert?

Erst einmal keine. Ich bin mir nicht sicher, ob die Spekulation mancher Sozialdemokraten, der Kanzler würde sie rufen, falls die FDP in Hessen und NRW rausfliegt, tatsächlich begründet ist. Warum sollte Kohl das tun? Die SPD-Mehrheit im Bundesrat ist keine neue Situation, und die FDP ist so auf Kohl angewiesen, daß dem gar nichts Besseres passieren kann. Bei einer Großen Koalition geht es doch immer darum, wem sie mehr nutzt, also wer letztlich gestärkt daraus hervorgeht. Kohl wird eine solche Koalition nur eingehen, wenn er davon überzeugt ist, sie nutzt letztlich seiner Partei.

Sie gehen also davon aus, daß die derzeitige Koalition die Legislaturperiode übersteht?

Ganz bestimmt.

Was bedeutet das für die Kampagne 1998? Wieder Rot-Grün?

Ich sehe keine Alternative. Eine andere Option wird es nicht geben, weil es inhaltlich keine andere gibt.

Was ist mit der PDS? Die Parteiführung ist ja gerade dabei, ihren Laden zu modernisieren.

Das macht es für die Grünen natürlich spannender. Man kommt dann vielleicht endlich davon weg, die PDS zu dämonisieren, und beginnt sich der Mühe zu unterziehen, die konkrete Politik der PDS zu kritisieren. Das ist eine Debatte, auf die ich mich sehr freue.

Eröffnet der Prozeß innerhalb der PDS denn eine Tolerierungsperspektive für 98?

Die Frage der Entwicklung der PDS und die Möglichkeiten, die sich daraus ergeben, werden schon sehr viel früher als 98 zu debattieren sein. Wenn man darauf setzt, daß es dort einen Sortierungsprozeß zwischen den unterschiedlichen Strömungen gibt, dann wird sich dieser Prozeß in dem Moment beschleunigen – und daran habe ich ein Interesse –, wo die PDS Politik nicht nur verspricht, sondern auch machen muß. Deshalb stellt sich die Frage demnächst im Berliner Landesverband.

Reden Sie vom Grünen- oder vom PDS-Landesverband?

Von beiden. Und natürlich auch von der SPD. Die SPD wird sich fragen müssen, ob sie weiter bei Diepgen unterkriecht oder ob sie in der Stadt tatsächlich eine andere Politik machen will. Das wird sicher eine interessante Debatte. Wobei ich denke, als allgemeine Regel muß gelten: Je eher die PDS tatsächlich Politik machen muß, um so schneller sortiert sich die Partei.

Der Bundesvorstand würde dem Berliner Landesverband also grünes Licht für eine Zusammenarbeit mit der PDS geben?

Wir würden nie einem Landesverband, schon gar nicht aus der Entfernung, irgendwelche Ratschläge geben. Das machen wir nur in einem gemeinsamen Gespräch. Ich beschreibe nur eine Situation, die bis zum Herbst geklärt werden muß und die sowohl Sozialdemokraten wie Grüne wie PDS zu beantworten haben. Meine Überzeugung ist allerdings, die Sortierung der PDS geht um so schneller, je weniger sie ausgegrenzt wird. Ich bin gegen die krampfhafte Ausgrenzung des Ladens. Das stärkt doch nur die Stalinisten und sonstigen Scharlatane.

Interview: Hans Monath,

Jürgen Gottschlich

Die Zitate stammen erstens von Generalinspekteur Naumann und zweitens von Joschka Fischer