Kein Wandel durch Freihandel

Laxe Umweltgesetze, Dumping-Löhne und ein Handelsbilanzdefizit: Südlich des Rio Grande hat das Nafta-Abkommen nichts Gutes gebracht  ■ Von Andrea Böhm

Washington (taz) – In El Paso kann man die Zukunft riechen – seit Jahren schon. Wenn im Winter Inversionswetterlage herrscht, verwandelt sich die texanische Grenzstadt samt ihrem mexikanischen Nachbarn Ciudad Juarez in eine Käseglocke. Darunter wuseln geschäftig, aber immer häufiger von Kopfschmerzen und Atembeschwerden geplagt, knapp zwei Millionen Menschen: in Zehntausenden klappriger Autos und Bussen, in Fabriken für Zement, Glas und Klimaanlagen auf mexikanischer Seite, in Supermärkten und durchklimatisierten Wohnvierteln auf amerikanischer Seite. Mittendurch verläuft der Rio Grande, der nicht nur als Grenze zwischen dem Bundesstaat Texas und der Provinz Chihuahua herhalten muß, sondern auch als Klo. Weil auf mexikanischer Seite keine Kläranlage existiert, fließen täglich mehrere hunderttausend Liter Abwässer in einen Kanal und sickern von dort in den Fluß.

Diese Zahlen meinen die Stadtväter und die beiden Handelskammern natürlich nicht, wenn sie vom Wachstumserfolg ihrer Region schwärmen. Seitdem ausländische Investoren, vor allem US-amerikanische, ihre Produktion in sogenannte maquiladoras – Fabriken, die auf mexikanischem Boden mit billigen mexikanischen Arbeitskräften für den Export produzieren – verlagert haben, haben sich El Paso und Ciudad Juarez zum größten „internationalen Metroplex“ der Welt vereint. Zu dem gehört „Bermudas Park“, ein Industriegebiet, in dem die meisten der über 170.000 Arbeitsplätze angesiedelt sind, die durch die maquiladoras geschaffen wurden. Dort betragen die Lohnkosten nur ein Sechstel des US-Durchschnitts. Was für US-Arbeitnehmer undenkbare Gehälter sind, bedeutet für Mexikaner ein stabiles Einkommen, das sie zum Teil gleich wieder über die Grenze in die Shoppingzentren tragen.

„Die größte Müllkippe der Welt“

Nun sind südlich des Rio Grande nicht nur die Arbeitskräfte billiger, sondern auch die Umweltschutzgesetze laxer. Für Carl Pope, Direktor der Umweltschutzorganisation „Sierra Club“, ist das Grenzgebiet schlicht und einfach die „größte Müllkippe der Welt“. Gut ein Jahr nach dem Inkrafttreten des Nafta-Abkommens sieht die Organisation ihre Befürchtungen bestätigt. Die trilaterale Grenzkommission für Umweltfragen mit Sitz in Ciudad Juarez, die laut Zusatzabkommen zum Freihandelsvertrag Aufräumprojekte im Grenzgebiet in Gang setzen soll, ist bislang aufgrund personalpolitischer Unstimmigkeiten nicht aus den Startlöchern gekommen. Ihre wichtigste Funktion, sagt Dan Seligman, Nafta-Experte des „Sierra Clubs“, könne sie ohnehin nicht adäquat erfüllen: Laut Abkommen soll die Kommission als Beschwerdebehörde für Bürger und Verbände fungieren, wenn ein Nafta-Mitglied gegen nationale Umweltschutzgesetze verstößt.

„Ein Papiertiger“, sagt Seligman. Denn erstens trägt der Kläger die Beweislast, und zweitens „sind die potentiellen Sanktionen ohne jeden Biß“. Nach einem langwierigen Beratungsverfahren können zwei Nafta-Mitglieder das dritte notfalls mit Sanktionen belegen. Doch in der Praxis, so Seligman, muß der Sünder mit einer vergleichsweise lächerlichen Geldstrafe rechnen, die zudem in die eigene Staatskasse zurückfließt – für den Umweltschutz.

Ein paar hundert Kilometer weiter südlich – in sicherer Entfernung vom US-amerikanischen Verbraucher – spielt sich unterdessen ein anderes Umweltdrama ab, das durch Nafta zwar nicht verursacht, wohl aber verschärft wurde. Im Culiacan-Tal in der Provinz Sinaloa wird von Farmarbeitern zu Niedrigstlöhnen das produziert, was im Winter im Überfluß in US- Supermärkten aufgestapelt wird: Tomaten, Gurken, Paprika, Melonen. Weil US-Konsumenten seit Jahren höchst kritisch auf Berichte über den Einsatz von Pestiziden reagieren, setzen mexikanische Farmer Chemikalien ein, die nach kurzer Zeit nicht mehr nachweisbar sind. Um so verheerender sind die Folgen für die Landarbeiter: Seitdem Nafta den US-Markt für mexikanische Agrarprodukte noch weiter geöffnet hat, wird in Sinaloa gesprüht, was die Flugzeuge hergeben. Für die 3.000 Landarbeiter ist es mittlerweile normal, einmal im Jahr wegen Pestizidvergiftung das Krankenhaus aufzusuchen. Ärzte vermuten, daß die überdurchschnittlich hohe Leukämierate in der Region mit dem Einsatz von Pestiziden zu tun hat. Ein Großteil der Chemikalien ist in den USA verboten. Doch die Produkte deswegen vom amerikanischen Markt zu verbannen und damit Druck auf die mexikanischen Großfarmer auszuüben wäre laut Nafta-Abkommen eine unzulässige Importbeschränkung.

Nafta: Synonym für Unübersichtlichkeit

Doch trotz Ökokatastrophen und den jüngsten Pesostürzen wird man in den USA nicht müde, das Abkommen nach seinem ersten Jahrestag als Erfolg zu feiern – auch wenn die Zahlen eine andere Sprache sprechen. In einer Umfrage der Consulting Firma „KPMG Peat Marwick LLP“ gaben 62 Prozent der befragten US- Manager an, Nafta habe ihrer Meinung nach nicht nur höhere Exportquoten, sondern auch mehr Arbeitsplätze in den USA geschaffen und solle auf weitere lateinamerikanische Länder ausgedehnt werden. Eine Studie des US-Kongresses vom Dezember letzten Jahres ergab jedoch ein Minus von 10.000 Jobs. 127.000 Arbeitsplätze wurden in den USA bislang durch Nafta geschaffen, 137.000 gingen durch wachsende Importe aus Mexiko verloren. Dies allerdings änderte nichts an dem Umstand, daß – ebenfalls dank Nafta – das Handelsbilanzdefizit Mexikos gegenüber den USA 1994 um über 3 Milliarden Dollar auf 17 Milliarden Dollar gestiegen ist.

Geht es nach der Clinton-Regierung, so soll als nächstes Land Chile Nafta beitreten. Doch die „Freihandelseuphorie“ im US- Kongreß, glaubt Dan Seligman, ist nach der Pesokrise und den politischen Unruhen beim südlichen Nachbarn vorerst vorbei. Denn als Preis für die Ratifizierung des Gatt-Abkommens nahm der Kongreß dem Präsidenten die Kompetenz, dem Parlament weitere Verträge ohne Änderunsgsmöglichkeiten vorzulegen. Und vielen Wählern, vor allem der von beiden Parteien umworbenen weißen Mittelschicht, sind Abkürzungen wie Nafta oder Gatt nicht etwa Synonym für neue Chancen in einer globalen Ökonomie, sondern für die neue Unübersichtlichkeit in ihrem Leben.